Pommerle faßte nach Jules Hand. »Bleib doch lieber hier, Jule. Amerika soll so weit weg sein.«
»Nein, ich bleibe nicht«, erwiderte der Bursche und stampfte trotzig mit dem Fuße auf den Boden. »Ich gehe auch nicht mehr zum Meister zurück. Einen faulen Schlingel hat er mich geheißen. Nun kommt auch noch seine Tochter, die soll ebenfalls auf mich aufpassen. In der Werkstatt soll sie sitzen. Nein – nein – nein.« Jules Stimme wurde immer weinerlicher. »Ich gehe nach dem Hausberg, hole mir Geld und fahre nach Amerika.«
»Wollen wir nicht zuerst mal den Onkel fragen?«
»Na, das wäre ja noch schöner! Du darfst keinem Menschen etwas davon sagen. Wenn ich erst drüben in Amerika bin, schicke ich dir viel Geld, dann kommst du nach.«
»Und Onkel und Tante auch?«
»Nein, wir zwei ganz allein. Mach doch kein so dummes Gesicht, Pommerle. Der Rübezahl ist mir heute nacht erschienen.«
»Das hast du geträumt, Jule.«
»Nun ja, Träume gehen doch in Erfüllung.«
»O nein«, lachte Pommerle schallend auf. »Ich habe auch geträumt, es ist ein großer Fisch gekommen, der hat meine Puppe gefressen und den schönen Gummifrosch. Dann habe ich nachgesehen, und da war alles noch da. Der Onkel sagt, die Träume sind nur Geschichten, die uns der Himmel im Schlafe schickt, daß wir uns in der Nacht nicht langweilen.«
»Ach was«, meinte Jule unwillig. »Der Rübezahl meint es gut mit mir. Ich gehe nach Amerika.«
»Der Rübezahl«, meinte Pommerle nachdenklich, »der Rübezahl ist doch nur ein Sagenmann. Vor vielen hundert Millionen Jahren mag er ja in den Bergen herumgestiegen sein. Dann ist er gestorben und zur Sage geworden.«
»Unsinn!« brauste der Jule auf. »Wirst ja sehen, wie mir der Rübezahl hilft.«
Nachdenklich schaute das kleine Mädchen vor sich nieder. Wenn der Jule nicht mehr zu seinem Meister zurückgehen wollte, würde sich der Meister sehr wundern und ihn suchen lassen. Pommerle hatte sich auch einmal im Gebirge verlaufen. Da hatten viele Menschen nach ihm gesucht. Der Meister würde dann in großer Angst sein.
»Geh doch lieber zu deinem Meister zurück, Jule. Dann wirst du ein tüchtiger Tischler und auch sehr reich. Der Meister Reichardt ist doch auch reich.«
»Mit dir ist heute gar nichts los. Wenn du eben nicht mitmachst, bleibst du hier. Du hast immerfort Ferien, aber ich soll nur arbeiten. Und wenn ich doch nichts recht mache –«
Der jämmerliche Ton, in dem diese Worte gesagt wurden, schnitt Pommerle ins Herz.
»Mir machst du alles recht, Jule. Und wenn du eben nach Amerika willst, dann geh nur hin. Aber kommst du bald wieder?«
»Das weiß ich nicht.«
»Deine Mutter kann doch aber nicht allein hierbleiben?«
Ein Schatten glitt über das Gesicht des Knaben. »Die Mutter ist immerzu krank. Mit der kann ich nicht viel reden. Sie ist nicht daheim, ich wohne jetzt beim Meister, und – da ist doch keiner, mit dem ich so reden kann wie mit dir.«
»Komm mit zum Onkel oder zur Tante, Jule. Vielleicht schenkt sie dir ein blankes Fünfmarkstück, daß du nach Amerika fahren kannst. Dann brauchst du nicht heute nacht zum Berg zu gehen.«
»Ich habe es dir doch schon mal gesagt, daß deine Tante nichts wissen darf.«
Viertelstunde auf Viertelstunde verrann, noch immer sprach Jule von seinen abenteuerlichen Plänen. Bis plötzlich Pommerle vom Flur des Hauses die Stimme der Tante hörte.
»Wenn ich nur wüßte, wo das Kind bleibt!«
»Jule, ich muß nun gehen, sie warten schon mit dem Mittagessen. Jule, lieber Jule, komm doch mit!«
»Du darfst nichts sagen, daß ich hier war, keiner darf es wissen.«
Dann war der Platz hinter der Hecke leer, Jule war davongelaufen.
Pommerle befand sich in einem Zwiespalt. Es vertraute so gern der Tante alles an, was es auf dem Herzen hatte. Doch der Jule hatte verboten, von der Zusammenkunft zu reden. Nun fragte die Tante sogar noch, warum sich das Kind heute so sehr verspätet habe.
Pommerle stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte der Tante ins Ohr: »Ich darf es keinem sagen, daß ich mit einem Jungen im Garten gewesen bin. Er hat mir gesagt, ich muß stille sein.«
Es dauerte gar nicht lange, da ahnte Frau Bender, wer dieser Knabe gewesen sei. Sie fragte Pommerle nicht weiter darüber aus, wunderte sich auch nicht über dieses Zusammentreffen, da sie glaubte, daß Jule in seiner Mittagsstunde auf Pommerle gewartet und mit ihm geplaudert habe. Erst am Abend, als das Kind immer wieder fragte, ob es gefährlich sei, nachts am Hausberg spazierenzugehen, wurde Frau Bender aufmerksam.
»Ich glaube nicht, daß jemand nachts am Hausberg spazierengeht.«
»Doch, Tante, heute nacht geht einer dort spazieren.«
»Wer denn?«
Wieder überlegte Pommerle. Das hatte der Jule nicht verboten zu erzählen. Aber ehe die Antwort kam, tönte die dunkle Stimme eines Mannes durch das Haus. Frau Bender wurde aufmerksam.
Das war doch Meister Reichardt! Sie ging hinaus und ließ den Tischler eintreten.
»Ich wollte nur fragen, gnädige Frau, ob sich der Jule heute hier sehen ließ. Der Junge ist mir heute früh fortgelaufen, hat sich zum Mittagessen nicht eingestellt und ist auch nach Feierabend nicht zurückgekommen. Seine Kammer ist leer.«
»Der Jule ist heute mittag in unserem Garten gewesen.«
»So, ich habe ihn heute früh wegen einer Unvorsichtigkeit ausgescholten. Schon gestern hat er allerlei Dummheiten gemacht. Er ist ja ein ganz guter und anstelliger Bengel, aber wenn er seinen Eigensinn bekommt, ist nichts mit ihm anzufangen. Wo mag er nur hingelaufen sein?«
Pommerle hörte die Worte des Meisters. Sein Herz klopfte bis in den Hals hinauf. Durfte es den Jule verraten? Sollte es sagen, daß der Jule heute nacht in den Hausberg gehen wollte, um Geld zu holen und nach Amerika zu fahren? Noch schwieg der Kindermund.
»Ich denke, Meister Reichardt, der Jule wird sich zum Abend wieder einfinden. Sollte er zu uns kommen, werden wir ihn sofort zu Ihnen bringen.«
Abends, kurz vor zehn Uhr, Pommerle lag schon lange in seinem Bettchen und schlief, schickte Meister Reichardt nochmals zu Professor Bender, um nach Jule zu fragen. Aus dem Krankenhaus war die Botschaft gekommen, daß sich der Zustand der Mutter Jules plötzlich verschlimmert habe. Der Knabe sollte hinkommen.
»Wo mag der Bengel nur stecken?« sagte Professor Bender. »Ich kann dem Meister keine Auskunft geben.«
»Vielleicht wäre es gut«, meinte die gutherzige Frau Bender, »wenn ich zu Frau Kretschmer hinginge.«
Mutter Kretschmer, wie man sie in Hirschberg nannte, hatte jahrelang Zeitungen ausgetragen und war fast allen gut bekannt. Sie war immer eine stille und ruhige Frau gewesen, die sich und ihr Kind mühsam durchbrachte. Sie empfand für Benders herzliche Dankbarkeit, weil sich der Professor immer des Julius angenommen hatte, und weil er es auch gewesen war, der dem Knaben die Lehrstelle verschafft hatte.
»Wenn es mit Mutter Kretschmer so schlecht geht, will ich heute noch nach ihr sehen.« Schon zog sich Frau Bender den Mantel an und verließ nach wenigen Minuten die Villa. Sie bat noch, man solle den Jule sofort nachschicken, falls er sich heute abend doch noch sehen lasse.
Mit Mutter Kretschmer ging es zu Ende. Wohl hörte sie noch die freundlichen Worte, die Frau Bender an die Sterbende richtete, wohl blickten die halbgebrochenen Augen nochmals suchend nach der Tür.
»Der Jule –«
»Der Jule wird bald hier sein, Mutter Kretschmer«,