Gerade dieses ausgesprochene Verbot war es, das Ida immer wieder veranlaßte, begehrliche Blicke auf den Baum mit den köstlichen Früchten zu werfen. Wahrscheinlich war gerade dieses Obst ganz besonders schmackhaft. Warum sollte sie nicht einmal kosten? Es waren doch genug Pfirsiche an den Zweigen. Schließlich würde es niemand merken, wenn sie alltäglich einige herunterholte und ganz heimlich verspeiste.
»Wollen wir mal schütteln, ob was abfällt? Das ist doch nicht verboten.«
»Wir sollen den Pfirsichbaum nicht anrühren. – Nu komm weg! Wenn wir ihn nicht mehr sehen, denken wir nicht mehr dran.«
Aufs neue begann das Spiel der Kinder, doch Ida hatte nicht mehr die richtige Aufmerksamkeit dafür. Ihre Gedanken waren bei dem Baum mit den verbotenen Früchten. Nach kurzer Zeit erklärte sie, das Spielen sei langweilig, man wolle sich lieber im Garten verstecken. Pommerle möge sich in der Laube gegen die Wand stellen, man würde rufen, wenn es soweit wäre.
Ahnungslos ging Pommerle auf den Vorschlag ein. Während Karoline sich hinter einem großen Fliederbusch verbarg, eilte Ida zum Pfirsichbaum. Leider konnte sie die Zweige mit den Früchten nicht erreichen. Sie holte sich daher einen Stock und schlug unsanft auf die Äste ein, daß mehrere Früchte herunterfielen. Hastig stopfte sie sich die Kleidertasche voll und verbarg sich ganz hinten im Hof. Hier konnte sie ungestört essen.
Pommerle machte sich auf die Suche. Karoline war bald gefunden, Ida fehlte.
»Schnapp, lieber Schnapp, wo ist sie hingelaufen?«
Der Hund sprang dem Hofe zu. Pommerle eilte hinter ihm drein. Da schoß Ida hervor, wollte zu der Anschlagstelle laufen, um sich frei zu schlagen, aber Schnapp kam ihr so unglücklich zwischen die Füße, daß Ida über ihn stolperte und der Länge nach hinfiel. Sie stürzte so heftig, daß die Pfirsiche, die noch in ihrer Tasche waren, völlig zerdrückt wurden und der Saft der Früchte aus dem Kleide lief. Im ersten Augenblick dachte das Kind nicht an diesen Unfall. Karoline war es, die die feuchten Stellen bemerkte.
»O je, was kommt denn da für ein Brei aus deiner Tasche?«
Pommerle, das den Duft der Pfirsiche kannte, wußte sogleich, was geschehen war.
»Du garstiges Mädchen! So ist es recht, – du hast Pfirsiche genommen! So ist's gut, das ist die Strafe!«
»Ich hab' mir das Knie aufgeschlagen.«
»Hab' ich dir nicht gesagt, daß wir keine Pfirsiche nehmen dürfen? So ein Leckermaul! Die Nase hättest du dir zerschlagen sollen. – Pfui, schäme dich, ich spiele überhaupt nicht mehr mit dir!«
»Mein Knie blutet!«
»Nein«, sagte Pommerle energisch, »ich kann nicht einmal Barmherzigkeit mit dir haben. Der Vati sagt, alles wird bestraft!«
»Der dumme Hund, den verprügle ich!«
»Untersteh dich, der Hund hat deine Frechheit herausgebracht!«
»Es blutet so sehr!«
»Dann geh ins Haus und wasch dir das kaputte Knie ab. Ich helf' dir nicht, denn du bist ein Dieb, und mit einem Dieb habe ich kein Erbarmen.«
Ida begann laut zu weinen. Pommerle jedoch stand unerbittlich neben ihr und schalt erneut auf Ida. Deren Weinen wurde lauter und immer lauter, so daß Frau Bender aufmerksam wurde. Sie ließ die Näharbeit liegen und eilte hinaus in den Garten.
»Was ist denn geschehen? Warum weinst du so sehr, Ida?«
»Weil – – weil – –«, rief Pommerle. Dann legte es die kleine Hand fest auf den Mund. »Nun kannst du es selber sagen; ich will nicht petzen.«
»Der dumme Hund ist mir in die Beine gelaufen, er wollte mich beißen. Da bin ich gefallen.«
»Das ist ja wieder gelogen«, brauste Pommerle auf. »Ach, Mutti, ich möchte dir so gerne alles erzählen.«
»So mag uns Karoline sagen, was geschehen ist. Zuerst wollen wir ins Haus gehen und das unsaubere Knie abwaschen und verbinden.«
Frau Bender führte die hinkende Ida fort, während Pommerle den Schnapp liebkoste.
»Du bist gerade, als wärst du vom lieben Gott geschickt, der das Gute belohnt und das Böse bestraft. – Es schadet ihr nichts, wenn es ihr weh tut!«
Frau Bender hatte es für richtig gefunden, Pommerle über den Vorfall nicht zu befragen. Sie wußte wohl, daß ihre wahrheitsliebende Tochter Anstoß daran nahm, daß in Ida gar viele schlechte Eigenschaften wohnten. Wie war das Kind doch zu bedauern! Der Vater tot, die Mutter tagsüber auf Arbeit, niemand kümmerte sich um die vielen Kinder, die wild und verwahrlost heranwuchsen. Da war keine Hand, die das keimende Unkraut aus den Kinderherzen jätete, niemand, der ihnen sagte, wohin es führen müsse, wenn man sich nicht bemühe, Lug und Trug zu meiden. Frau Bender nahm die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, sehr ernst. Es galt nicht nur, den beiden Schützlingen während vier Wochen kräftiges Essen und gesunde Luft zu geben, es sollten auch in die Herzen der beiden Kinder gute Keime gelegt werden. Das war natürlich nicht einfach, es war auch nicht so rasch zu erreichen, wie es die gutherzige Professorengattin sich wünschte.
Die sehr freundlichen Ermahnungen, die Frau Bender Ida zuteil werden ließ, wurden wohl angehört, doch schien es, als fielen sie nicht auf fruchtbaren Boden. Wie anders war Karoline veranlagt! Sie würde von dem Ferienaufenthalt manches Wertvolle mit heimnehmen. Frau Bender merkte, daß sich Karoline bemühte, ihrem Pommerle ähnlich zu werden, und das war ihr ein Trost für die vielen Mißerfolge, die sie bei Ida hatte.
Da in Hirschberg zahlreiche Familien waren, die Kinder zu sich genommen hatten, fragte Frau Bender bei jenen, die diesen Familienzuwachs erhalten hatten, um Rat. Sie hörte die verschiedensten Äußerungen. Einige waren hochbeglückt über die Kinder; von Tag zu Tag erholten sich ihre kleinen Gäste mehr und mehr. Angst und Scheu wichen von ihnen, und gar oft zeigte es sich, daß in den Ärmsten der Armen große innere Werte schliefen. Wie glücklich machte es, solchen Kindern vier Wochen lang Freuden schenken zu dürfen. Welch herrliche Idee war es, diese kümmerlichen Kinder aus dem Elend herauszuholen und in die Sonne zu führen. Ein Werk echt christlicher Nächstenliebe, ein Werk, das aus mitfühlendem Herzen geboren war.
Es gab aber auch andere, die den Tag der Abreise der Kinder ersehnten. Mit erschreckender Deutlichkeit zeigte es sich bei manchen, daß die Kinder, die in Verwahrlosung aufgewachsen waren, von allem Guten und Edlen keine Ahnung hatten. Hier genügten keine vier Wochen, um die Samenkörner in die jungen Herzen zu legen und keimen zu lassen. Monate hätten darüber hingehen müssen, um diese unglücklichen Kleinen aus dem seelischen Elend herauszuziehen. Aber ging nicht der Ruf durch das Land, daß man in Zukunft gerade auf die Familie das Augenmerk richten wolle? Klang es nicht von Ost nach West, von Nord nach Süd, daß man in der Familie die Keimzelle zur Erneuerung des Volkes zu suchen habe?
»Wie gern möchte man auch seelisch helfen«, sagte Frau Bender im Kreise ihrer Bekannten, »doch fürchte ich, ich gebe meinem Schützling, wenn er uns wieder verläßt, nichts Dauerndes mit. Mein Pommerle sieht alles mit anderen Augen, das Kind ist entrüstet, wenn Ida lügt und etwas Verbotenes nimmt, wenn es unordentlich mit dem Eigentum anderer umgeht. Niemand ist da, der in Breslau die kleinen Mädchen zur Ordnung anhält, wenn die Mutter das tägliche Brot herbeischaffen muß. Abends ist sie viel zu müde, um nach dem Rechten zu sehen. Ich wußte genau, daß sich manche von uns eine große Last auflud, als sie die Kinder der Ärmsten ins Haus nahm. Aber ich glaube, darum haben wir es besonders gern getan. Wir wollen doch alle mithelfen.«
»Ihr Pommerle ist solch ein prächtiges Kind, das einen guten Einfluß auf die beiden Mädchen ausüben wird, auch wenn sie nur vier Wochen hier sind.«
»Ja, um mein Pommerle brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Die Kleine hat ein so richtiges Gefühl für das Gute und Schlechte, daß Böses nicht an sie herankommt. Ich bin dem lieben Gott von Herzen dankbar, daß er uns die Kleine in den Weg führte. Wieviel Freuden wären meinem Manne und mir versagt geblieben ohne