»Vati, ich gebe meine ganze Sparbüchse.«
»Das ist es nicht allein, Pommerle; man muß sich die Gedanken zu eigen machen, die darin gipfeln, welches ist der rechte Weg zum Licht? Unser Vaterland hat einstmals sehr glückliche Tage gesehen, sie sollen wiederkommen. Jeder Deutsche hat seine Heimat lieb, aus dieser Heimat sollen die vielen Sorgen vertrieben werden, die sich dort einnisteten. Du brauchst also den Kopf nicht hängen zu lassen, mein Junge, ein einziges Zeitungsblatt hat dir diese schweren Lasten aufs Herz gewälzt. Nun steck die Nase des öfteren in die Zeitungen, dann wirst du bereits die ersten Anzeichen sehen, die bessere Zeiten künden.«
In gespanntester Aufmerksamkeit folgte Jule allen weiteren Berichten, die Professor Bender gab. Auch Pommerles Wangen hatten sich gerötet; ein beglückendes Gefühl überkam sie. Wenn der Vater meinte, daß das Schreckliche, von dem der Jule erzählt hatte, nicht mehr so häufig passieren sollte, mußte es wahr sein. Nicht alles verstand das Kind, was der Vater sagte. Doch eins verstand es bereits: der Hunger würde in Zukunft nicht mehr so groß sein, wie es in der Zeitung stand, die Jule ständig bei sich trug.
Selbstverständlich besprach Pommerle alles, was es vom Vater gehört hatte, mit Sabine. Das Kind wurde immer kleinlauter, als es hörte, daß Sabine auf die Sommerreise verzichtete, die sie mit der Meisterin machen wollte.
»Unser Hirschberg ist so schön, hier habe ich alles, was ich brauche, doch das ist es nicht allein. Es ist erst neulich ein Aufruf ergangen, man möge kranke Kinder nach Möglichkeit in gesunde Gegenden schicken. Familien, die genügend Raum zur Verfügung haben, sollten solch ein krankes oder schwaches Kind aufnehmen, es einige Wochen beköstigen, damit es gekräftigt und erfrischt wieder in seine dürftige Stadtwohnung zurückkehrt. Mutter meinte, wir haben Platz. So wollen wir aus Breslau einen kleinen Knaben zu uns nehmen, der daheim mit seinen fünf Geschwistern in einer düsteren Kellerwohnung lebt. Die Eltern sind arbeitslos, sie können den Kindern kaum das Nötigste geben. Ich denke es mir wunderschön, solch armem Kinde unser schönes Riesengebirge zeigen zu können.«
»Hast du dich nicht sehr auf die Reise gefreut, Sabine?«
»Ja, Pommerle, das habe ich, doch freue ich mich jetzt noch viel mehr darüber, einem armen, kranken Kinde die Gesundheit zurückgeben zu können.«
»Wir wollen doch auch verreisen.«
»Ich weiß es, kleines Pommerle. In vier Wochen fahrt ihr nach Schweden.«
»Wohin gehen denn die anderen Geschwister von dem kleinen kranken Jungen aus dem Keller?«
»Ich denke, es werden sich andere Familien melden, die diese armen Kinder aufnehmen. Zu helfen ist heute heilige Pflicht.«
Als Pommerle am anderen Tage in der Klasse hörte, daß sich verschiedene Eltern ihrer Schulfreundinnen ebenfalls zur Aufnahme eines Großstadtkindes gemeldet hatten, stand es für die kleine Hanna fest, daß auch der Vater solch ein Kind ins Haus nehmen müsse. Pommerle malte sich die schrecklichsten Bilder von dem Leben solch eines kleinen Mädchens aus. Die Kellerwohnung finster und feucht, große Schnecken an den Wänden. Die Kinder auf einem Berg Kartoffeln sitzend, genau solch ein Berg, wie er im Keller der Eltern lag. Nein, das ging nicht!
Beim Mittagessen brachte das Kind sein Anliegen vor.
»Huh – und dann kommt eine große kalte Schnecke, und das Kleinste liegt noch in den Windeln, und sie kriecht dem Kinde ins Gesicht. Dann ist kein Waschbecken da, daß es sich waschen kann. – Ach, Mutti, ich möchte auch ein kleines Mädchen hierhaben. Die Paula und die Trude, auch die Ella bekommt ein kleines Mädchen ins Haus. Auch Sabine freut sich darauf. In der Zeitung hat es gestanden. – Nicht wahr, Vati, das gehört auch zu dem großen Werk, das das Elend fortjagen will?«
»Jawohl, mein Kleines, doch wir werden solch ein Kind nicht nehmen können, dein Vater muß nach Schweden um Vorträge zu halten, und Mutti und du fahren mit.«
»Die Sabine wollte auch fortfahren – sie hat sich sehr darauf gefreut. Nun freut sie sich noch mehr, weil sie ein Kindchen kriegt, eins aus dem Keller.«
»Willst du damit sagen, Pommerle, daß du nicht mit nach Schweden kommen willst, daß du auf die Reise verzichtest, daß du lieber mit einem armen Kinde daheim spielen möchtest, das wir in den Ferien in unser Haus nehmen?«
»Ja, Vati, ich möchte nicht mit nach Schweden, ich bleibe lieber bei dem armen Kind aus dem Keller!«
Der Professor schaute seine kleine Tochter ernst an. Ein heller Schein glitt über sein Gesicht.
»Ich habe auch schon daran gedacht«, sagte Frau Bender und zog Pommerle an sich. »Haben wir nicht unser herrliches Hirschberger Tal? Haben wir nicht Freuden daheim in Hülle und Fülle? Man braucht uns, hungernde Kinder rufen nach uns. – Sag, mein Kleines, wollen wir Vati allein nach Schweden reisen lassen? Wollen wir hierbleiben und uns dafür zwei recht arme, blasse Kinder ins Haus holen, mit denen du in den Ferien spielst?«
»Ach ja, Mutti! Zwei arme Kinderchen, denen wir immerfort zu essen geben!«
»Dann geht es aber auch nicht nach Pommern, an die See, mein Kind.«
Das Köpfchen des kleinen Mädchens sank ein wenig herab. »Die liebe, liebe Ostsee«, sagte es leise.
»Wenn wir verreisen, können wir keine fremden Kinder aufnehmen.«
Ganz still war es im Zimmer geworden. Pommerle sagte nichts mehr. Schweden gab es mit leichtem Herzen auf, aber der Gedanke, auch Neuendorf lassen zu müssen, in diesem Sommer die geliebte Ostsee nicht wiederzusehen, erschien ihm freilich furchtbar schwer. Das Kind sah die fragenden Blicke, die Vater und Mutter auf sein Gesicht hefteten. Da barg es das Gesicht rasch in der Mutter Schoß.
»Nun, mein Pommerle?«
»Und wenn wir nur ein Kind nehmen, und dann doch noch ein kleines bißchen an die Ostsee fahren?«
»Wie wäre es, Pommerle, wenn wir ein Mädchen von der Ostsee kommen ließen?«
»Die Elli Götsch!«
»Nein, wir würden uns erkundigen, wo solch armes Kind wohnt, das Not leidet. Die Kleine kann dir dann von der Ostsee erzählen, wie es dort aussieht. – Was meinst du dazu?«
Eine Weile war Pommerle still, dann schüttelte es energisch den Kopf, daß die blonden Locken nur so flogen.
»Ein Kind aus dem dunklen Kellerloch, wo es nach ollen Kartoffeln stinkt, aber – – aber – – nicht von der Ostsee.«
»Warum nicht?«
Wieder das heftige Kopfschütteln. Mit in Tränen schwimmenden Augen hob Pommerle das Gesicht.
»Nicht von der Ostsee, dann höre ich es immerzu rauschen, wenn sie von dort erzählt. – Nein, ein Kind aus dem finstern Kellerloch. Ich will schon mit ihm spielen, sehr schön.«
Frau Bender zog Pommerle an ihre Brust und küßte es innig.
»Überlege es dir bis morgen, mein Kleines. Wenn du wirklich auf die Schwedenreise verzichten willst, nehmen wir statt dessen zwei arme, notleidende Kinder auf. Ich weiß, daß es dir nicht leicht wird, doch du hast selbst gesagt, daß jeder Opfer bringen soll. – Mein kleines Pommerle hat die Mutter nach dieser Richtung hin belehrt. Und nun überlege es dir genau.«
Pommerle kam zu keinem Entschluß. Es lief am Abend noch zum Jule.
Mit schwankender Stimme berichtete es von dem Plan, die Reise aufzugeben und zwei arme Kinder während der Ferien in der Villa aufzunehmen.
»Nu geht es nicht an die Ostsee, das ganze Jahr nicht und – – ich habe mich doch so furchtbar darauf gefreut.«
»Auch nicht nach Schweden?«
»Nein, Jule, nicht nach Schweden!«
»Hurra – hurra – es geht nicht nach Schweden!« Jule machte einige gewaltige Sprünge, warf die Mütze hoch in die Luft und jauchzte. »Hier bleibst du, den ganzen Juli!«
»Auch nicht an die Ostsee komme ich.«
»Ich