Nun ging es endlich. Als der Professor am Fenster erschien, mit lächelndem Staunen die kleine Sängerschar musterte, sangen alle aus voller Kehle.
Das Lied war beendet.
»Nu rasch noch eins«, rief Pommerle erregt und machte einen Luftsprung nach dem anderen. »Was denn nun? Schnell, schnell, der Vati wartet.«
»Guter Mond, du gehst so stille«, rief Lenchen. Man hatte das Lied erst kürzlich gelernt.
Der Chor setzte ein. Anfangs klappte es wieder nicht recht, doch schließlich fand man sich doch in einer Tonart zusammen. Man sang das Lied.
Professor Bender war aus dem Haus gekommen, wollte grade einige Worte des Dankes an die Kleinen richten, da begann eine zu singen:
»Morgen muß ich fort von hier und muß Abschied nehmen.«
Vergessen war die Pause von fünfzehn Minuten, vergessen, daß eine Lehrerin bereits im Klassenzimmer stand und auf die Kinder wartete. Ein Lied nach dem anderen erklang, alles bunt durcheinander, was man in letzter Zeit gelernt hatte. Ein Schlaflied, ein Lied an den Winter, ein Choral – bis schließlich Professor Bender energisch abwinkte.
»Habt ihr denn heute frei, Kinder? Dürft ihr herkommen? Ich danke euch herzlich für diese schöne Überraschung.«
»Hast du große Freude gehabt, Vati?«
»Gewiß, ihr habt mich sehr erfreut.«
»Vati – wir konnten alle das Frühstück nicht essen, weil wir so rasch herlaufen und singen mußten. – Ob du uns wohl ein Stück Torte schenkst?«
»Wie lange habt ihr denn noch Zeit? Es ist gleich halb elf Uhr.«
»Halb elf!« tönte es vielstimmig, »was wird Fräulein Meersmann sagen, au je!«
»Habt ihr denn nicht frei bekommen? Seid ihr etwa einfach fortgelaufen?«
Aus dem Vorgarten eilte eine Kette Kinder, eines hinter dem anderen, als letztes Pommerle, laut rufend:
»O je, o je, wenn es halb elf ist, dann kommen wir ja zu spät!«
Ehe der Professor noch wußte, was eigentlich vorging, stand er allein im Garten. Betrübt betrachtete er das Blumenbeet. Dort hatten eifrige Kinderfüße so manches Blümchen zertreten. Doch es war gut gemeint, und wenn auch die kleinen Sänger vom Winter und vom Mond gesungen hatten, für Bender war es ein Beweis, daß man ihm und seinem kleinen Pommerle Freude bereiten wollte. Morgen würde er der braven Sängerschar in die Schulpause eine Torte schicken, als Belohnung für die heutige Überraschung.
Vor der Klassentür sammelte sich die Schar. Es wurde beängstigend still. Die kleinen Plappermäulchen verstummten.
»Mach doch mal die Tür ein Ritzchen auf, ob Fräulein schon da ist.«
»Pommerle, du mußt zuerst hineingehen.«
»Wenn uns der Vati nur ein Stückchen Torte gegeben hätte, würde ich es jetzt Fräulein schenken.«
Schließlich wurde die Tür des Klassenzimmers ein wenig geöffnet, doch sogleich wieder zugeschlagen.
»Sie sitzt auf dem Katheder!«
»Was machen wir nun?«
Doch ehe die Kinder zu einem Entschluß gekommen waren, wurde die Tür von innen geöffnet, Fräulein Meersmann stand vor den Kindern, die die Köpfe tief senkten.
»Wo seid ihr gewesen?«
Pommerle wurde von allen Seiten gestoßen, es sollte reden. Schuldbeladen hob das Kind den Kopf.
»Wir wollten wirklich nur in der großen Pause ein bißchen beim Vati singen. Und dann hat er sich so gefreut, da haben wir halt noch ein bißchen gesungen, immer mehr, und dann ist es so spät geworden. Nun sind wir wieder hier.«
»Ihr habt also die Stunde darüber vergessen?«
»Bitte, Fräulein, sein Sie uns nicht böse. Aber der Vati hat sich doch so gefreut.«
»Ja, er hat sich furchtbar gefreut, er hat gelacht«, rief eine zweite.
»Mein Vater ist heute bei ihm blasen gewesen!«
»Und meiner geht heute mittag zu ihm mit dem Zylinderhut.«
Pommerles Augen ruhten mit rührendem Flehen auf dem Gesicht der Lehrerin.
»Es ist doch heute sein Jubiläumsgeburtstag, da wollten wir ihn auch ein bißchen ehren, weil doch Leute bis aus Schweden kommen.«
Die Lehrerin konnte nicht länger widerstehen. Ihre vorwurfsvollen Worte fielen sehr milde aus, und erleichtert nahmen die Kinder ihre Plätze wieder ein. Pommerle sah noch immer das glückliche Gesicht des Vaters. Und als die Stunde beendet war, sagte es, indem es der Lehrerin zum Abschied die Hand reichte:
»Wir haben wirklich sehr schön gesungen, es hat den Vati wirklich sehr gefreut.« – –
Im Benderschen Hause ging es heute recht unruhig zu. Blumenspenden wurden in Mengen abgegeben, Gratulanten kamen und gingen, auch eine Deputation von der Stadt Hirschberg stellte sich ein, schließlich kamen die Herren von der Geologischen Gesellschaft.
Professor Bender fühlte sich durch die zahlreichen Ehrungen, die ihm heute zuteil wurden, hochbeglückt. Daß sein eifriges Forschen bis weit hinaus über Deutschlands Grenzen anerkannt wurde, befriedigte ihn. Mit vielen Entbehrungen, unter großen Mühsalen, hatte er einst studiert, von dem festen Willen beseelt, das gesteckte Ziel zu erreichen. Aus eigener Kraft war er heute auf dem wissenschaftlichen Gebiet eine Größe geworden, das machte ihn glücklich und stolz. Von Schweden und Norwegen aus bot man ihm an, im Sommer Vorträge zu halten, man lud nicht nur Professor Bender, sondern auch seine Familie ein, mehrere Wochen in den nordischen Ländern zu verbringen. Den Lehrstuhl, den man ihm anbot, lehnte Bender dankend ab. Immer wieder erklärte er, daß er sich in einem anderen Lande nicht wohlfühlen könne, daß es in seiner deutschen Heimat noch genug zu erforschen gäbe, daß er aber sehr gern für einige Zeit nach Schweden kommen werde, um das gegenseitige Wissen auszutauschen.
Man saß gemütlich zusammen, Wein wurde getrunken, Reden gehalten, der norwegische Professor, Herr Ole Daae, stieß auf die Familie des Gelehrten an und wies dabei auf das süße Kinderbild an der Wand, das Pommerle darstellte.
»Den kleinen Blondkopf hätte ich gern einmal gesehen.«
»Der Wunsch wird Ihnen bald in Erfüllung gehen, Herr Kollege. Unser Pommerle wird in wenigen Minuten hier sein. Die Kleine mag dann ihren Geburtstagswunsch wiederholen, den sie mir heute früh um vier Uhr sagte.«
Als Pommerle erschien, wurde es sehr verhätschelt. Das Kind mit den großen Blauaugen, mit dem offenen Blick, schmeichelte sich sogleich in die Herzen aller. Und als es nun gar von dem Hauptgestein des Riesengebirges sprach, hob Professor Daae die Kleine begeistert auf seine Knie.
»Dich nehme ich mit heim, du mußt zu meinen Enkelkindern kommen! Du bist ja ein prachtvolles Mädchen!«
»Nein, nein«, wehrte Professor Halvorsen, »zunächst wurde uns der Besuch zugesagt. Nicht wahr, kleines Pommerle, du kommst gern nach Schweden?«
»O ja –«
»Du wirst dort viel Wasser sehen, freilich nicht solche Berge wie hier. Hast du überhaupt schon einmal die große See erschaut?«
Die blauen Augen des Kindes verdunkelten sich. »Die See, die liebe, liebe Ostsee«, klang es leise. »Ich bin doch aus Pommern. Mein erster Vater ist in der See ertrunken – dann bin ich hierher in die Berge gekommen.«
Professor Bender sorgte dafür, daß das traurige Erinnern in seinem Kinde bald wieder verwischt wurde. Er schenkte dem Kinde ein kleines Gläschen Wein ein, und voller Entzücken schlürfte die Kleine den süßen Trank.
»Wir lassen dich gar nicht wieder fort«, lachte Professor Daae. »Bist du erst einmal in unserem schönen Norwegen, wird es dir so gut gefallen, daß