»Wohin brachte man dich, Unglücklicher? – Wohin?«
»Gott, auf ein Fahrzeug der Schuimer, der Schwarzflaggen, oder wie man sie sonst nennt«, huschte der Kleine mit dem Ton der Gleichgültigkeit weiter, obwohl seine Finger ihr Spiel auf der Tischplatte viel unruhiger fortsetzten. »Sie werden ja überall gern geduldet, die Freunde des armen Mannes, weil sie für jedermann eine Zuflucht in der Not sind, und hauptsächlich, da sie für billiges Geld sonst unerschwingliche Dinge ins Land bringen. Gewürz und Tuche, Bier und Rauchwerk. Nicht wahr, so meint man doch? Zudem, meine Freunde, wurde der Seeadler von einem Gewaltigen der Schuimer kommandiert, der großes Ansehen weit umher genoß. Kurz, dieser Kapitän sollte uns Verwundete um Schiffsdienst und ohne Fährgeld heimführen. So hatte Frau Margareta verabredet, denn sie tut ihren Beutel für abgediente Leute nicht eben weit auf. Aber seht, ihr Lieben, auf der Heimreise unter den schönen roten Segeln, bei dem leichten Verdienst und mitten zwischen den freien Menschen, denen alles gehört und die überall ihre Heimat haben, da fing sich der Hauptmann ohne große Mühe meine Genossen ein, einen nach dem anderen, da wurden sie »Gottes Freund und aller Welt Feind«, wie ihr gotteslästerlicher Eid lautet, und nur ich –«
»Und nur du?« lallte der junge Claus aus seinem wachen, düster lodernden Traum heraus und packte den Erzähler ungestüm an der Brust, als ob er ihn hindern wollte, von dem gespenstisch mitten durch die Stube rauschenden Schiffe zu entwischen.
Der andere schüttelte ihn überraschend kräftig ab.
»Laß mich«, wehrte er sich. »Mein Leben riecht nach Leder und Pfriem. Mich zieht es nach einem warmen Ofen und friedfertigen Tagen. Wo ich die finde, da wohnt mein Heiland. Deshalb, mein Büblein, siehst du, sprang ich eines Nachts, gerade als die Schuimer hier dicht vor der Küste unter Wind lagen, denn sie lauerten auf das Schiff der dänischen Gesandten – aus diesem Grund sprang ich in Gottes und aller Heiligen Namen über Bord, bekam den Fels zu packen, kletterte in die Höhle, und von dort hast du mich hervorgezogen. Dank sei dir und allen ehrlichen Menschen. Und jetzt« – geschmeidig glitt er von dem viel zu hohen Stuhl herunter, und aus den wiegenden Schritten, mit denen er sich aalglatt durch den engen Raum wand, wurde allmählich ein munterer Tanz. Es zuckte und sprang in allen Sehnen des Kleinen, die langen gelben Haare flatterten ihm wirr um die Schläfen, und den verständnislos hinschauenden Häuslern kam es vor, als ob auch die ungleichen Augensterne des Fremden in dem blassen Angesicht mithüpften. »Jetzt«, schmeichelte er und streckte die Arme, so daß sich ganz unerwartet ein paar derbe, harte Muskeln unter seinen Lumpen zeigten, »jetzt will ich euch weisen, wie man als Ruderknecht das Meer schlägt. Seht so – so, mit solch langen Strichen, wie man eine schöne Wange streichelt. Und dann die Fische. Ich kenne den Pfiff eines Bacchanten. Auf das Liedlein strecken sie halb toll die grünen Schnauzen aus dem Wasser. Oh, laßt mich nur machen.«
Plötzlich hielt Heino Wichmann auf seinem Weg inne, als besänne er sich, daß er vor den armen Sassen vielleicht allzu wunderliche Dinge geäußert. Doch die Beckeras blieben angeschmiedet an ihren Plätzen, in wesenlosem Hinbrüten darüber, wie solch grelle, blitzende Heiterkeit sich in ihrer dunklen Bohlenkammer entladen könnte. Und nur die Seele des alten Claus riß und zerrte an dem Widerhaken, an dem sie sich in dumpfer Gefügigkeit wand, denn von all den schmackhaften Ködern war ihm eine Lockspeise zwischen den Zähnen aufgequollen, bis er sie nicht mehr herunterwürgen konnte. Halb murmelnd, in unbestimmter, ferner Ahnung stieg es aus seiner trockenen Kehle, dazu hielt er die Beine weit von sich gestreckt, gleichsam zum Schutz gegen die erwartete Antwort.
»Nichts für ungut. Wichmann, wie sagst du doch – ich meine bloß –, wie hieß der Kapitän, der dich brachte?«
Kaum war das gleichgültige Wort verklungen, da war es mit dem Hüpfen und Springen des Kleinen vorbei. Eingefangen wurzelte er in einer Sonnenlache auf dem Fußboden fest, die unruhigen Augen begannen wieder von einem zum anderen zu huschen, und die Stimme verfiel von neuem in das harmlose Kinderwispern, als er nach einigem Zögern erwiderte:
»Ich sagte schon, es war ein Ansehnlicher unter den Freibeutern. Gödeke Michael.«
»Gödeke? – Gödeke Michael?« wiederholten die drei, langsam in die nächtige Kluft ihres Gedächtnisses hinabsteigend.
Eine Weile herrschte Stille, jeder horchte in den dunklen Schacht hinunter, gespannt, angestrengt, ob nicht dem Laut ein Echo heraufschalle, bis endlich vor dem kranken Fischer etwas Gestaltloses, mit Schrecken Bekleidetes emportappte.
»Laß mich – laß mich – Hab' doch schon mal gehört – Singsang – wie war's noch?«
Noch gelber stach das Antlitz des Leidenden unter dem wirren Bart hervor, da er mit Mühe die einzelnen Fetzen zusammensuchte. Scheu, verstohlen summte er vor sich hin:
»Der Gödeke, Gödeke Michael.
Der führt auf dem Schwarzschiff allein den Befehl.«
Da stürzte es aus dem Kleinen wie gezogen hervor, unbekümmert darum, was weiter daraus entstehen könnte:
»Seine Brust ist wohl eine Elle breit.
Den Bedürftigen schenkt er Speise und Kleid –«
Mutter und Sohn aber steckten die Köpfe zusammen, sie schränkten ihre Hände fest ineinander, und der Atem hörte ihnen auf zu wehen, als die anderen nun lauter anstimmten:
»Und tragt ihr Armen am Leben schwer –
Das Recht, das wohnt allein auf dem Meer.
Dort richtet die Reichen an Leib und Seel
Der Gödeke – Gödeke Michael.«
Viele Tage strahlten aus dem Meer und sanken erloschen wieder dahin zurück. Die Jahreszeiten stiegen auf Schneeschauern und Sonnenwolken an die Küste, gleich fremden Eroberern, die sich dann tief im Lande verlieren, und aus Heino Wichmann, dem mädchenhaften Knäblein, dem blondhaarumflatterten Geheimnis, war etwas Alltägliches geworden. Ein Ruderknecht, der seinen Seedienst willig verrichtete und von den Katenleuten nicht geschont wurde. Selbst dem Vogt, der sich bald nach der Ankunft des Fremdlings hartnäckig nach dem Woher und Wohin erkundigt hatte, leuchtete es ein, daß dieses zierliche Geschöpf für die Ruderbank geboren sein müsse, und er lobte heimlich die geschmeidige Gewandtheit, die der Kleine in der Führung eines Bootes an den Tag legte. Ja, sogar der auffallende Drang des Fremden, immer wieder zur Tag — und Nachtzeit in die Wogen hinauszuschneiden, er wurde schließlich von seinen neuen Genossen als der selbstverständliche Trieb eines dem Handwerk mit ganzer Seele Hingegebenen erachtet. Worüber man sich jedoch stets von neuem wunderte, das war die unermüdliche Zähigkeit, jene aus allen Gliedern des Kleinen rastlos quellende Frische, die an keinem Ding vorbeiglitt, die von jedem etwas wußte und sich überall zu betätigen strebte.
Heino Wichmann vermochte der Hausfrau höchst merkwürdige Aufschlüsse über Kochkunst und schmackhafte Gerichte zu erteilen, von denen die unverbildete Seele Hildas nicht nur bisher kein Sterbenswort geahnt hatte, sondern die ihre harmlose Rauheit zuerst auch als etwas beinahe Schädliches einschätzte. Aber mit der Zeit wurden auf dem Herde unter dem Rauchfang doch allerlei Versuche unternommen, und während der kleine Strohblonde mit verschmitztem Lächeln die verschiedenartigsten Kräuter und Wurzeln in den großen Kessel schleuderte, da zog von fern der süße Duft einer etwas milderen Lebensführung unter das Strohdach. Man schleckerte und schmatzte und erfuhr zu nicht geringem Befremden, wie köstliche Erfindungen zu Padua, in Wien oder gar zu Paris die Köche großer Herren aus Pilzen, aus Schaltieren und gedörrtem Fischfleisch ersonnen hätten. Wunderlich! Heino Wichmann war weit herum gewesen. Seine doppelfarbigen Augen hatten selbst auf