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Nach dem Stand der heutigen Schmerztherapie wird eine Lebensverkürzung zwar nur noch selten gegeben sein, auszuschliessen ist sie jedoch im Einzelfall nicht.[102] Obwohl die Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe in Deutschland seit langem anerkannt ist, besteht über deren Begründung sowie Reichweite nach wie vor Uneinigkeit.[103] Was die Reichweite betrifft, besteht die Straflosigkeit der indirekten aktiven Sterbehilfe nach h.M. auch dann, wenn der Arzt die lebensverkürzende Wirkung als sicher voraussieht, somit mit dolus directus zweiten Grades handelt.[104] Des Weiteren kann es nicht auf die Zeitspanne der Lebensverkürzung ankommen, weshalb kein Grund besteht, die Straflosigkeit auf die Fälle der Sterbehilfe im engeren Sinn zu begrenzen.[105] Die Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe erstreckt sich somit auf alle mit unzumutbaren Schmerzen oder anderen unzumutbaren Leiden verbundenen „tödlichen Krankheiten“.[106]
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Begründet wird die Straflosigkeit von Teilen des Schrifttums durch Tatbestandsausschluss, weil die indirekte aktive Sterbehilfe sozialadäquat sei und daher ihrem Sinngehalt nach den Bestimmungen einer strafbaren Tötung (§§ 212, 216 StGB) nicht unterliege.[107] Vereinzelt wird auch die Rechtsfigur des erlaubten Risikos herangezogen.[108] Nach der heute überwiegenden Meinung liegt zwar eine Tötung vor, diese ist jedoch wegen rechtfertigenden Notstandes straflos.[109] Die Annahme einer rechtfertigenden Einwilligung des Todkranken wird durch die Einwilligungssperre von § 216 StGB verunmöglicht.[110] Eine Rechtfertigung der indirekten Sterbehilfe aufgrund von § 34 StGB bedingt die Abwägung der Interessen des in die Behandlung (mutmasslich) einwilligenden Patienten und der entgegenstehenden Interessen an längstmöglicher Lebenserhaltung.[111] Es fliessen somit Einwilligungselemente in den Abwägungsvorgang im Rahmen der Notstandslösung mit ein.[112] Vereinzelt wird der Standpunkt vertreten, dass das Rechtsgut „Leben“ abwägungsresistent sei und deshalb eine Notstandssituation, welche eine solche Abwägung gerade voraussetzt, nicht vorliegen kann.[113] § 34 StGB stellt jedoch entscheidend auf eine Abwägung nicht der Rechtsgüter, sondern der konkreten Interessen ab, weshalb ein wesentliches Überwiegen des Schmerzlinderungsinteresses über das Interesse an einem (leidvollen) Weiterleben nicht an der Höchstwertigkeit des Rechtsguts Leben scheitern kann.[114] Einige Autoren sowie der Bundesgerichtshof begründen mit dem Recht des Patienten auf ein humanes Sterben in Würde ein Überwiegen des Schmerzlinderungsinteresses gegenüber der Lebensverkürzung, indem die Menschenwürde als verfassungsrechtlicher Höchstwert über dem Lebensrecht steht.[115] Zudem wird vorgebracht, dass § 34 StGB auf die Kollision der Rechtsgüter verschiedener Personen zugeschnitten sei; dagegen lässt sich einwenden, dass Wortlaut und Systematik eine Subsumtion von Sachverhalten, welchen Interessenkollisionen innerhalb der Sphäre ein und derselben Person zugrunde liegen, zulassen.[116] Eine analoge Anwendung auf Sachverhalte der indirekten Sterbehilfe ist zumindest möglich.[117] Die Diskussion verdeutlicht, dass die Trennung der strafbaren und straflosen Formen aktiver Sterbehilfe zweifelhaft und kriminalpolitisch zunehmend problematisch ist.[118]
a) Begriff
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Von passiver Sterbehilfe spricht man, wenn eine zur Lebensverlängerung notwendige Behandlung durch eine Betreuungsperson, in den meisten Fällen den behandelnden Arzt, unterlassen wird.[119] Der Begriff der „passiven“ Sterbehilfe ist insofern irreführend, als sich die Unzulässigkeit von ärztlichen Eingriffen bei entscheidungsfähigen Patienten bereits aus dem Selbstbestimmungsrecht ergibt; bei Unterlassen solcher Eingriffe kann somit nicht sinnvoll von „Sterbehilfe“ gesprochen werden.[120]
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Grundsätzlich sind der Arzt und sonstige Betreuungspersonen gegenüber dem Patienten als Garanten verpflichtet, das ihnen medizinisch Mögliche zur Wahrung der Belange des Patienten zu unternehmen.[121] Es besteht jedoch weitgehend Einigkeit darüber, dass die Nichteinleitung oder Nichtweiterführung lebenserhaltender Massnahmen in der Sterbephase oder bei einem tödlich Kranken rechtmässig sein kann.[122] Aus der erforderlichen Einwilligung in ärztliche Heilmassnahmen als Kern des Arzt-Patienten-Verhältnisses ergibt sich, dass der Patient vom Arzt jederzeit die Einstellung der Behandlung verlangen kann, selbst wenn dadurch mit Sicherheit der Tod des Patienten eintreten wird.[123] Massnahmen künstlicher Lebensverlängerung gegen den Willen des Patienten sind mit dessen Selbstbestimmungsrecht unvereinbar.[124]
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Der Vorrang des Patientenwillens gegenüber dem Ziel eines Lebensschutzes durch künstliche Lebensverlängerung gilt unabhängig davon, ob der Sterbevorgang bereits eingesetzt hat (sog. Hilfe beim Sterben) oder nicht (sog. Hilfe zum Sterben), somit auch in Fällen einer infausten Prognose.[125] Wenn es sich um einen Patienten in entscheidungsfähigem Zustand handelt, tritt deshalb Straflosigkeit ein, weil ein Patient nicht gegen seinen Willen behandelt werden darf und damit die Garantenpflicht des Arztes entfällt.[126] Selbst die „Grundsätze“ der Bundesärztekammer lassen mittlerweile die Änderung von Therapiezielen bzw. die Nichtweiterführung einer lebenserhaltenden Behandlung im Vorfeld der Sterbephase zu.[127]
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Auch bei zur Einwilligung Unfähigen gestattet der BGH bereits seit geraumer Zeit einen Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen, sofern es sich um Fälle der sog. Sterbehilfe im engeren Sinn[128] handelt.[129] Schwierigkeiten ergeben sich dann, wenn der entscheidungsunfähige Patient noch nicht im Sterben liegt, so etwa in Fällen irreversibel bewusstloser Patienten, welche mit Hilfe ärztlicher Massnahmen noch längere Zeit in einem Dämmerzustand weiter existieren können (apallisches Syndrom, Wachkoma) oder auch in Konstellationen, in denen eine rechtlich beachtliche Erklärung des unheilbar Erkrankten aufgrund seines aktuellen geistigen Zustandes nicht erlangt werden kann.[130] Doch auch in diesen Situationen gilt das Prinzip der Patientenautonomie. Wurde der Wille, auf lebensverkürzende Massnahmen zu verzichten, vorab in einer Patientenverfügung fixiert, muss diese Willensäusserung unabhängig davon, ob der Sterbevorgang bereits eingesetzt hat oder nicht, beachtet werden.[131] Seit Inkrafttreten des „Dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts“ am 1. September 2009 wird dieser Grundsatz von § 1901a Abs. 3 BGB unmissverständlich statuiert; die Reichweite der Patientenverfügung unterliegt somit keiner zeitlichen Beschränkung.[132] § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB verdeutlicht weiter die Situationsbezogenheit als Kernvoraussetzung für die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung, d.h. die schriftlichen Anordnungen des Verfassers entfalten ihre Wirkung nur dann, wenn die aktuelle Lebens- und Behandlungslage seinen antizipierten Festlegungen über den Verzicht auf die Einleitung oder Fortführung näher bezeichneter medizinischer Massnahmen entspricht.[133] An die Detailgenauigkeit der Patientenverfügung dürfen keine überzogenen Anforderungen gestellt werden, zumal ihre Verbindlichkeit nicht von einer vorhergehenden ärztlichen Beratung abhängig ist.[134] Nichtsdestotrotz muss aus einer Patientenverfügung erkennbar sein, dass die darin enthaltenen Anordnungen auch in der konkreten Behandlungssituation Geltung erlangen sollen. Hierfür müssen die Erklärungen hinreichend konkret erscheinen. Gemäss BGH ist eine genügende Bestimmtheit beispielsweise dann zu verneinen, wenn in genereller Art und Weise schriftlich festgehalten wird, dass „lebensverlängernde Massnahmen unterbleiben“ sollen. Eine solche Erklärung könne keine unmittelbare Bindungswirkung entfalten. Neben einer genügenden Spezifizierung ärztlicher Massnahmen kann die erforderliche Bestimmtheit aber auch durch Nennung konkreter Krankheiten oder Behandlungssituationen erreicht werden. Der Patientenwille in Bezug auf die konkrete Massnahme ist in solchen Fällen durch