II. Ende des menschlichen Lebens
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Lange Zeit galt der irreversible Stillstand von Kreislauf und Atmung als strafrechtliches Todeskriterium.[65] Heute wird nach den Fortschritten der modernen Medizin gemäss h.M. auf den Hirntod abgestellt.[66] Als Hirntod wird der Zustand der erloschenen Gesamtfunktion des Grosshirns, Kleinhirns und des Hirnstamms bei künstlich aufrechterhaltener Herz-Kreislauffunktion (Gesamthirntod) definiert.[67] Vereinzelt wird die Hirntodkonzeption einerseits dahingehend kritisiert, dass bereits der Teilausfall des Gehirns oder Stadien im Vorfeld derartiger Vorgänge als Tod des Menschen festzulegen seien, andererseits wird die Rückkehr zum klinischen Todesbegriff gefordert.[68] Auf der medizinisch-normativen Begründungsebene sprechen jedoch tragfähige Argumente für die Hirntodkonzeption, wobei zumindest die herausragende Bedeutung des Gehirns für den menschlichen Gesamtorganismus die Festlegung des Todes im Totalausfall des Gehirns plausibel erscheinen lässt.[69] Die konsequente Umsetzung der Rechtsauffassung der Hirntodkritiker hätte zudem rechtspraktisch zur Folge, dass Transplantationen lebenswichtiger Organe nicht mehr vorgenommen werden dürften, da derartige lebensverkürzende Eingriffe selbst bei Vorliegen einer Einwilligung des Organspenders als Tötung auf Verlangen gemäss § 216 StGB zu beurteilen wären.[70] Auch verfassungsrechtliche Vorgaben stehen der Hirntodkonzeption nicht entgegen.[71] Im Gegenteil ist dem Grundgesetz kein Begriffsverständnis zu entnehmen, wonach „Leben“ bis zum Ausfall der letzten biologischen Äusserung des Organismus definiert ist, sondern vielmehr handelt es sich um eine verfassungsrechtliche Wertungsfrage, deren Beantwortung massgeblich durch medizinische Erkenntnisse beeinflusst wird.[72] Die Kriterien zur Feststellung des Hirntodes stellen somit keine juristisch-normative Frage dar, sondern sind dem medizinischen Bereich zuzuordnen.[73] Die vom Wissenschaftlichen Beirat der BÄK herausgegebenen Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes[74] wurden mit der vierten Fortschreibung der Richtlinie überarbeitet.[75] Darin wird bewusst nicht mehr von Hirntod, sondern medizinisch-wissenschaftlich präzise vom „irreversiblen Hirnfunktionsausfall“ als sicherem Todeszeichen gesprochen, wobei die Feststellung dieses irreversiblen Hirnfunktionsausfalles weiterhin auf einem dreistufigen Vorgehen beruht: Feststellung der Voraussetzungen (zweifelsfreies Nachweisen einer akuten schweren primären oder sekundären Hirnschädigung sowie der Ausschluss reversibler Ursachen), Feststellung der Bewusstlosigkeit (Koma), der Hirnstamm-Areflexie und der Apnoe sowie abschliessend der Nachweis der Irreversibilität anhand klinischer Verlaufsuntersuchungen.[76]
1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 2 Sterbehilfe › C. Unterscheidung der verschiedenen Formen von Sterbehilfe
1. Abgrenzung Sterbehilfe im engeren und im weiteren Sinn
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Terminologisch ist von einer erst während des Sterbevorgangs geleisteten „Hilfe beim Sterben“ dann auszugehen, wenn das Grundleiden eines Kranken nach ärztlicher Überzeugung irreversibel ist, einen tödlichen Verlauf genommen hat und der Tod in kurzer Zeit eintreten wird.[77] Der BGH gestattet bei dauernder Entscheidungsunfähigkeit des Patienten einen Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen wie Beatmung, Bluttransfusion oder künstliche Ernährung.[78] Ist hingegen der Patient noch grundsätzlich lebensfähig und damit die unmittelbare Todesnähe noch nicht erreicht, spricht man von „Hilfe zum Sterben“.[79] In dieser Form ist Sterbehilfe anerkannt, wenn die Krankheit einen unheilbaren Verlauf genommen hat, selbst wenn etwa der komatöse Patient noch längere Zeit mit Hilfe der Apparaturen am Leben gehalten werden könnte.[80] Lebensverlängernde, insbesondere intensivmedizinische Schritte können in solchen Fällen unterbleiben und bereits eingeleitete Massnahmen abgebrochen werden.[81] In der Rechtsprechung sowie in der h.L. dürfte es indes anerkannt sein, dass der Patientenwille nicht nur bei unmittelbarer Todesnähe zu beachten ist – eine andere Auffassung wäre mit dem Selbstbestimmungsrecht nicht zu vereinbaren, da dies etwa bei Komapatienten zu Zwangsbehandlungen führte.[82] Mit der gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung, welche durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29. Juli 2009[83] erfolgte, stellt § 1901a Abs. 3 BGB in diesem Zusammenhang nun unmissverständlich klar, dass es auf Art und Stadium einer Erkrankung nicht mehr ankommt.[84] Der Unterscheidung in Sterbehilfe im engeren und weiteren Sinn kommt deshalb nur noch beschränkte Bedeutung zu.
a) Direkte aktive Sterbehilfe
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Die gezielte Tötung eines anderen sowie die Beschleunigung des Todeseintritts bei einem anderen durch ein aktives Tun stellt eine strafbare Tötung dar, auch wenn der Sterbende dies ausdrücklich verlangt.[85] Dies gilt auch bei nur geringfügiger Verkürzung des Lebens des Opfers.[86] In diesem Zusammenhang unterstreicht die Bestimmung von § 216 StGB (Tötung auf Verlangen), dass selbst das Verlangen als gesteigerte Form der Einwilligung keinen Ausschluss der Strafbarkeit bewirkt.[87] Somit bleibt etwa das Setzen einer Giftspritze durch einen Arzt, um den leidenden Patienten auf dessen ausdrücklichen Wunsch von seinen qualvollen Schmerzen zu erlösen, nach § 216 StGB strafbar.[88] Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB scheidet nach h.M. aus.[89] In der Literatur wird jedoch durchaus auch die gegenteilige Meinung vertreten, dass in Fällen extremen Leidens des Moribunden eine Rechtfertigung der gezielten aktiven Lebensverkürzung nach den Regeln des rechtfertigenden Notstands in Betracht kommen soll.[90] Insbesondere in Fällen, welche substanziell einem Suizid gleichkommen, der aber aufgrund des physischen Zustandes des Sterbenden nicht mehr von ihm selbst ausgeführt werden kann, erscheint eine Rechtfertigung vertretbar.[91] Duttge schlägt die Einführung eines „minderschweren Falls“ in einem Abs. 3 in § 216 StGB vor, mit welchem für aussergewöhnliche und einzigartige Fälle aufgrund einer Gesamtwürdigung der konkreten Umstände die blosse Verurteilung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) erlaubt würde.[92] Rosenau plädiert ebenfalls für eine gesetzliche Regelung der begrenzten Freigabe aktiver Sterbehilfe; ein fakultatives Absehen von Strafe reiche nicht weit genug, da klare und vor allem berechenbare Konsequenzen nötig seien.[93] Diesen Tendenzen ist zuzustimmen, ist es doch nicht logisch zu begründen, dass eine Abwägung zwischen dem Lebensinteresse des Patienten und seinem Interesse an Schmerzfreiheit im Falle der indirekten Sterbehilfe zulässig, bei nicht mehr therapeutisch beherrschbaren Qualen jedoch unzulässig sein soll.[94] Das auf § 216 StGB gestützte absolute Verbot ist in Fällen medikamentös nicht mehr unterdrückbarer Vernichtungsschmerzen rechtspolitisch sowie dogmatisch zweifelhaft.[95] Im genannten Grenzbereich ist eine auf die Befürchtung eines „Dammbruchs“ gestützte Abgrenzung zur indirekten Sterbehilfe kaum realistisch.[96] Die geltende Rechtslage führt in der Praxis zu einem Dunkelfeld von Mitleids-Tötungen im Grenzbereich zur indirekten Sterbehilfe.[97]
b) Indirekte aktive Sterbehilfe
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Indirekte Sterbehilfe liegt vor,