Das Blickfeld verlagert sich durch diese Einsichten in das Verhältnis von Gewalt, Gerechtigkeit und Eigenlogik zunehmend auf die Unterscheidung zwischen Recht und Nicht-Recht, zwischen Rechtsform und Gesellschaft. Da die sozialen Umwelten für das Recht unerreichbar bleiben, stellt sich die Frage, wie ein |64|mimetischer Umgang des Rechts mit dem Nicht-Recht denkbar werden kann[254]. Wie kann das Recht »ein Sensorium für die menschlichen und gesellschaftlichen Kräfte« aufbauen und »eine Spannung zwischen dionysischer Energie und apollinischer Form« auf Dauer stellen[255]? Die neuere Diskussion um eine Kritische SystemtheorieSystemtheorie erschließt in dieser Hinsicht auch Ressourcen der Ästhetik und der Urteils- und Entscheidungstheorie für rechtspolitische Fragen.
Durch diese Wende hin zum Verhältnis von Recht und Gesellschaft knüpft die Kritische SystemtheorieSystemtheorie an die Annahme eines sozialen Substrats an, das die kritische Rechtsstaatslehre der 1920er und 1930er Jahre bemühte, und aktualisiert es für die funktional ausdifferenzierte Weltgesellschaft[256]. Demnach evoluiert das Recht nicht nur selbstreferentiell und ungerichtet (und »funktioniert« in dieser Hinsicht), sondern es bezieht sich auf einen historisch gewachsenen Stand der funktionalen Differenzierung, der sich nicht einzig »logisch« (als Anderes, Negativkorrelat) erschließen lässt. Die Evolution findet stets als Ko-Evolution mit anderen Systemen statt. Nimmt man eine solche Analyseperspektive ein, treten Asymmetrien, ungleiche Entwicklung und historische Umstände hervor, die eine nur »logische« Anwendung der funktionalen Differenzierung übersteigen. Sie beleuchtet die Differenzierungsvorgänge in ihrer Geschichtlichkeit und geht der Kontinuität und dem Wandel in der »historischen Konsolidierung intersystemischer Asymmetrien« nach[257].
Adäquate Kommunikationsweisen bewähren sich also nicht nur im Hinblick auf den unproblematischen Anschluss an die jeweilige systemspezifische Selbstreferenz, sondern müssen einen angemessenen Umgang mit dem jeweiligen historischen Material finden. Dies ist folgenreich für den Modus der RechtskritikRechtskritik: Wird das Recht als begrenzt offenes System, als »poietisches Unsystem« verstanden[258], erscheint es weder aussichtsreich, externe Ideale an das Recht heranzutragen, noch die rechtliche Normativität als Königsnormativität zu adeln; vielmehr ist ein »Prozess fortschreitender Adäquanz« einzuleiten, der dem historisch |65|gewachsenen Stand der funktionalen Differenzierung gerecht wird[259]. So wird ein Kritikstil zwingend, der die bloße Verteidigung oder Zurückweisung des Rechts übersteigt und eine immanente Kritik in Gang setzt, in der sich Recht und Gesellschaft wechselseitig zu transformieren und zu befreien vermögen.
C. Literaturhinweise
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|67|Post-Juridische Rechtstheorien: BenjaminBenjamin, Walter, MenkeMenke, Christoph, LoickLoick, Daniel
Hannah Franzki
A. Einleitung
Der Begriff der »post-juridischen Rechtstheorie« bezeichnet keinen einheitlichen Strang der Theoriebildung. Er entspringt auch keiner eigenen Definition der hier vorgestellten Autor*innen. Vielmehr dient er im vorliegenden Text dazu, drei unterschiedliche Rechtstheorien im Hinblick auf einen bestimmten Gesichtspunkt vorzustellen: Die hier diskutierten Ansätze verbinden RechtskritikRechtskritik mit einer Bewegung, die auf eine entscheidende TransformationTransformation der modernen, westlichen Rechtsordnung abzielt, auf eine Ordnung nach dem JuridismusJuridismus. Post-juridisch sind diese Theorien auch insofern ihr Blick auf das Recht und seine Beschreibung von einem Ort außerhalb des geschlossenen juridischen Diskurses, nämlich aus der Philosophie, der Sprach- oder den Sozialwissenschaften, erfolgt.
So wenig wie die hier vorgestellten kritischen Rechtstheorien für sich selbst den Sammelbegriff »post-juridisch« beanspruchen würden, so wenig würden Verteidiger*innen des bürgerlichen Rechts dieses als »juridisch« bezeichnen. Vielmehr enthält der Begriff des JuridismusJuridismus schon eine Kritik des bürgerlichen Rechts. So hat beispielsweise Daniel LoickLoick, Daniel seine RechtskritikRechtskritik als Kritik des Juridismus formuliert[260]. Dabei bezeichnet für LoickLoick, Daniel der Begriff des Juridismus
die Dominanz des Rechts in den zwischenmenschlichen Interaktionsweisen westlicher Gesellschaften, welche die Bedingungen eines guten oder gelingenden Lebens als Zusammenleben untergräbt[261].
Für LoickLoick, Daniel dient also das Recht nicht dazu, Gleichheit oder individuelle Freiheit in modernen Gesellschaften zu verwirklichen. Vielmehr hinderte es die Menschen an ihrer freien Entfaltung.
Ohne ihre Kritik explizit auf den Begriff des JuridismusJuridismus zuzuspitzen, haben eine Reihe von Autor*innen immer wieder unterschiedliche Aspekte und Wirkungsweisen des bürgerlichen Rechts problematisiert. Ein zentraler Ansatzpunkt für die Kritik betrifft das Verhältnis von Recht und GewaltRecht und Gewalt. Liberale Rechtstheorien gehen davon aus, dass das Recht dazu beiträgt, zwischenmenschliche Gewalt zu begrenzen, indem es den Anspruch auf legitime Gewaltausübung monopolisiert. Dass das moderne Recht aber nicht nur Gewalt begrenzt, sondern selbst auf |68|Gewalt angewiesen ist, hat unter anderem der deutsch-jüdische