Eine radikale RechtskritikRechtskritik, die auf die konstitutive Rolle des Rechts für die Aufrechterhaltung gewaltvoller oder unfreier Gesellschaftsverhältnisse hinweist, provoziert immer auch die Frage, was aus dieser Erkenntnis folgt. Im deutschsprachigen Raum haben zuletzt die Philosophen Christoph MenkeMenke, Christoph[263] und Daniel LoickLoick, Daniel[264] über die Auseinandersetzung mit BenjaminBenjamin, Walter hinaus eine ausführliche Rechtskritik vorgelegt, die jeweils in dem Entwurf eines Rechts mündet, das die zuvor diagnostizierten Probleme zu überwinden sucht[265]. Neben der Rechtstheorie Benjamins soll hier daher ebenfalls in die Werke dieser beiden eingeführt werden. Der erste Teil des Kapitels stellt die Rechtskritiken der einzelnen Autoren vor. Im zweiten Teil wird dann auf die von den Autoren skizzierten Wege hin zu einer post-juridischen Rechtordnung eingegangen. Wie wir sehen werden, verlangt die Suche nach einem post-juridischen Rechtpostjuridisches Recht immer auch danach, das Verhältnis von Recht und Politik neu zu fassen.
B. Kritiken des Rechts
Von zentraler Bedeutung für die Entwicklung kritischer Rechtstheorie seit den 1990er Jahren ist der Text Zur Kritik der Gewalt, den Walter BenjaminBenjamin, Walter bereits 1921 veröffentlicht hat[266]. Eine Reihe zeitgenössischer Autor*innen beziehen sich auf Benjamins Text, um aktuelle rechtliche und politische Entwicklungen in unterschiedlichen Kontexten zu analysieren und zu überlegen, wie ein gerechtes, nicht gewaltbasiertes Recht aussehen könnte. Neben dem Aufsatz Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, mit dem Jacques DerridaDerrida, Jacques[267] die BenjaminBenjamin, Walter-Rezeption in der kritischen Rechtstheorie vorangetrieben hat, sind hier unter anderen die Arbeiten des italienischen Philosophen Giorgio AgambenAgamben, Giorgio[268], der |69|nord-amerikanische Sprachwissenschaftlerin Judith Butler[269] sowie des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek[270] zu nennen. Weil Benjamins Text einen zentralen Bezugspunkt für zeitgenössische theoretische Interventionen bildet, soll hier zunächst auf seine RechtskritikRechtskritik eingegangen werden.
I. Recht und GewaltRecht und Gewalt bei Walter BenjaminBenjamin, Walter
Walter BenjaminBenjamin, Walter (geb. 1892) war ein deutsch-jüdischer Intellektueller, der bis zu seinem Tod auf der Flucht vor den Nationalsozialisten im Jahr 1940 zu einer Vielzahl von Themen gearbeitet hat. Im Deutschland der Nachkriegszeit hat man seinem Werk vor allem in den Kultur- und Sprachwissenschaften Aufmerksamkeit geschenkt. Als Denker des Politischen oder als Rechtstheoretiker wird er erst in jüngerer Zeit wahrgenommen. Dies liegt auch daran, dass er sich in den wenigsten Texten explizit mit dem Recht auseinandersetzt und sich viele Gedanken zu dem Thema nur verstreut in anderen Texten finden. BenjaminBenjamin, Walter hat in diesem Sinne keine kohärente Rechtstheorie vorgelegt. Darüber hinaus ist das theoretische Gedankenfeld, auf dem sich Benjamin erklärtermaßen bewegt, durchaus eklektisch. In seinen Texten finden sich sowohl Denkfiguren aus der jüdischen Theologie als auch aus dem Marxismus. Mit BenjaminBenjamin, Walter zu denken erfordert daher die Bereitschaft sich zumindest zeitweise auf diese Welten einzulassen.
In seinem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt analysiert BenjaminBenjamin, Walter die Gewaltförmigkeit des modernen Rechts. Kritik der Gewalt bedeutet bei Benjamin keine negative Beurteilung – also Verurteilung – von Gewalt, sondern den Versuch das Wesen der Gewalt, und ihr Verhältnis zum Recht, zu erfassen[271]. BenjaminBenjamin, Walter stellt zunächst fest, dass der Rechtspositivismus hierzu keinen Beitrag leistet, denn er unterscheidet lediglich zwischen sanktionierter (erlaubter) und nicht sanktionierter (verbotener) Gewalt, gibt aber keine Auskunft darüber, warum diese Unterscheidung überhaupt möglich ist. Eine positive, also gesetzte, Rechtsordnung könne nicht aus sich heraus begründen, anhand welcher Kriterien diese Linie zwischen erlaubter und nicht erlaubter Gewalt jeweils gezogen werde.
Um zu beantworten, warum eine solche Unterscheidung überhaupt möglich ist, schlägt BenjaminBenjamin, Walter eine historisch-philosophische Perspektive auf das Verhältnis von Recht und GewaltRecht und Gewalt vor[272]. Sowohl die Einsetzung einer Rechtsordnung, als auch ihre Aufrechterhaltung, so BenjaminBenjamin, Walter, sei auf die Gewalt als Mittel angewiesen. BenjaminBenjamin, Walter unterscheidet daher zwischen rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt.
Für BenjaminBenjamin, Walter ist der Akt der Rechts(ein)setzung auf zweifache Weise mit Gewalt verbunden. Zum einen wird eine neue Ordnung häufig mit Hilfe von |70|Gewalt (zum Beispiel durch eine Revolution, einen Unabhängigkeitskampf oder der Neugründung eines Staates) eingesetzt. Die Gewalt verschwindet aber nicht, sobald sich die neue Rechtsordnung etabliert hat. Vielmehr lebt sie in ihr fort. Denn die mit der neuen Ordnung gesetzten Rechtszwecke könnten sich nun auf Gewalt als legitimes Mittel zu ihrer Durchsetzung berufen. Der an die Gewalt gebundene Zweck werde damit »als Recht unter dem Namen der Macht« eingesetzt«[273]. Die rechtsetzende Gewalt bedient sich also nicht nur der Gewalt als Mittel, sondern bestimmt gleichzeitig zu welchen Zwecken der Staat in Zukunft (rechtserhaltende) Gewalt anwenden darf. Dabei kann sie nicht begründen, an welcher Stelle die Grenze zwischen sanktionierter und nicht sanktionierter Gewalt gezogen wird. Um ein Beispiel zu nennen: Wie lässt sich begründen, dass ein Todesfall im Kontext eines bewaffneten Raubüberfalls als unzulässige Gewalt kriminalisiert werden muss, ein Todesfall in der Folge von Armut oder Unterernährung aber zulässige Gewalt darstellt[274]? Bei BenjaminBenjamin, Walter heißt das: »Rechtsetzung ist Machtsetzung[275]. DerridaDerrida, Jacques hat in seiner Lektüre Benjamins diese zweite Funktion der Gewalt im Zuge der Rechtssetzung als Gründungsgewalt oder foundational violence bezeichnet[276]. Gewalt bezeichnet hier nicht physische Gewalt, sondern den Umstand, dass dem gesetzten Recht ein letzter Grund fehlt, dies aber vom Recht verschleiert wird[277].
BenjaminBenjamin, Walter zufolge ruft jede rechtsetzende Gewalt eine zweite Art der Gewalt auf den Plan, die er rechtserhaltende Gewalt nennt. Es sei ein Reflex jeder Rechtsordnung sich gegen Akte der Rechtssetzung zu wehren, die die bisher etablierte Ordnung herausfordern. So versucht jede Rechtsordnung zum Beispiel über das Strafrecht Verhalten zu unterbinden, das die bestehende Werteordnung untergräbt. Allerdings – und dies ist der springende Punkt der Benjaminschen Analyse – dient die rechtserhaltende Gewalt nicht nur der Aufrechterhaltung einer bereits etablierten Rechtsordnung, sondern sie hat sich in ihrer tatsächlichen Manifestation immer schon mit einer neuen rechtssetzenden Gewalt vermischt. Ein Ort dieser laut BenjaminBenjamin, Walter »gespenstischen Vermischung« von rechtserhaltender und rechtssetzender Gewalt ist die Polizei. Dient sie offiziell dazu die etablierte Ordnung aufrecht zu erhalten, kommt es im konkreten Einsatz immer wieder zur eigenständigen Auslegung der Rechtslage durch die Exekutive, und dadurch zu einer neuen Rechtssetzung. Für Benjamin ist diese Vermischung von rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt nicht lediglich – wie es die liberale |71|Rechtstheorie deutet – eine vermeidbare Übertretung der Gesetze durch die Polizei, sondern sie ist vielmehr in der Offenheit der Rechtsvorschriften selbst angelegt[278].
Weil jede rechtsetzende Gewalt auf rechtserhaltende Gewalt angewiesen ist, um die Existenz der von ihr eingesetzten Rechtsordnung zu sichern, und dadurch »indirekt sich selbst schwächt«, spricht BenjaminBenjamin, Walter von einem Schwankungsgesetz, dem die modernen Rechtsordnungen unterliegen[279]. Aus dieser Perspektive erscheint die Geschichte historischen und politischen Wandels als ein zur Wiederholung verdammter Zyklus, in dem sich rechtssetzende und rechtserhaltende Gewalt ablösen. Weil Recht und GewaltRecht und Gewalt auf diese Weise schicksalshaft miteinander verquickt sind, stellt sich für BenjaminBenjamin, Walter die Frage, wie der Übergang zu einer neuen Ordnung möglich ist, die aus diesem Zyklus ausbricht und damit nicht länger auf Gewalt angewiesen ist.
II. Zur Legalisierung des NatürlichenLegalisierung des Natürlichen bei Christoph MenkeMenke, Christoph
Auch der Frankfurter Rechtsphilosoph Christoph MenkeMenke, Christoph beschreibt eine Gewalt, die vom Recht ausgeht und die – ähnlich wie die rechtssetzende Gewalt Benjamins – durch die Einsetzung des Rechts entsteht. Anders als bei BenjaminBenjamin, Walter liegt der Fokus Menkes aber nicht auf historisch-politischen