120Nach welchen Maßgaben die Eigenverantwortlichkeit des Suizidenten in Konstellationen zu beurteilen ist, in denen keine auf die unmittelbaren Folgen seiner Handlung bezogene Fehlvorstellung vorliegt, wird unterschiedlich beantwortet. Die sog. Exkulpationslösung will sinngemäß auf die §§ 19, 20, 35 StGB; 3JGG zurückgreifen und die Freiverantwortlichkeit immer nur dann verneinen, wenn sich der Suizident in einem Zustand bzw. einer Situation |57|befindet, in der er nach diesen Vorschriften für eine Fremdschädigung nicht verantwortlich wäre.[206] Demgegenüber sollen nach der Einwilligungslösung die Grundsätze, die für ein ernsthaftes Tötungsverlangen i.S.v. § 216 StGB gelten, analog heranzuziehen sein, mit der Folge, dass der Suizident dann nicht eigenverantwortlich handeln würde, wenn ein von ihm in der konkreten Tatsituation geäußertes Tötungsverlangen nicht als ernstlich i.S.v. § 216 StGB anzusehen wäre.[207] Zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen die Auffassungen insbesondere beim Vorliegen bloßer Motivirrtümer, die nicht die Voraussetzungen der §§ 19, 20, 35 StGB; 3JGG erfüllen, aber hinreichen, um einem Tötungsverlangen die Ernstlichkeit i.S.v. § 216 StGB zu nehmen. Wer sich beispielsweise das Leben nimmt, weil er der fälschlichen Äußerung seiner Lebensgefährtin vertraut, diese werde das Gleiche tun, handelt nach der Exkulpationslösung eigenverantwortlich, während die Eigenverantwortlichkeit nach der Einwilligungslehre zu verneinen ist.[208] Für die Einwilligungslösung spricht insbesondere, dass sie durch die Aufstellung strenger Anforderungen an die Freiverantwortlichkeit der Höchstrangigkeit des Rechtsguts Leben umfassend Rechnung trägt. Im Übrigen erscheint es auch dogmatisch überzeugend, die Wirksamkeit einer Verfügung über höchstpersönliche Rechtsgüter unter Heranziehung des Rechtsgedankens in § 216 StGB nach Einwilligungsgesichtspunkten zu beurteilen.[209]
121Kann nicht eindeutig geklärt werden, ob die Willensbildung des Suizidenten einwandfrei erfolgte und sein Handeln daher als eigenverantwortlich zu bewerten ist, ist nach dem Grundsatz in dubio pro reo zugunsten des anderen Beteiligten von einer Freiverantwortlichkeit auszugehen.[210]
bb) Herbeiführung oder Ausnutzung des Verantwortungsdefizits
122Mittelbare Täterschaft setzt weiterhin voraus, dass der Hintermann das Verantwortungsdefizit des Suizidenten selbst herbeigeführt oder ausgenutzt hat. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Hintermann durch seine Äußerungen oder Handlungen denjenigen Irrtum beim Vordermann verursacht, der diesen zu seiner Selbsttötung veranlasst. Zusätzlich kann eine Verantwortung des Hintermanns für das Verantwortungsdefizit des Vordermanns aber auch dadurch entstehen, dass er diesen durch Drohungen i.S.v. § 240 StGB zum Suizid bewegt.[211]
|58|c) Unterlassungstäterschaft
123Sind die Voraussetzungen eines unmittelbaren oder mittelbaren Begehungsdeliktes nicht erfüllt, ist zuletzt der Frage nachzugehen, ob eine Unterlassungstäterschaft desjenigen vorliegt, der nicht dagegen vorgeht, dass ein anderer seinen Selbsttötungsplan in die Tat umsetzt. Entsprechende Fallkonstellationen kennzeichnen sich typischerweise dadurch, dass der Sterbewillige den zum Tode führende Geschehensablauf bereits in Gang gesetzt hat (also beispielsweise eine Überdosis Schlaftabletten eingenommen hat) und ein anderer anschließend am Ort des Geschehens erscheint, aber untätig bleibt, obgleich das Leben des Sterbewilligen durch die Einleitung von Rettungsmaßnahmen noch gerettet werden könnte. Hinsichtlich des untätig Bleibenden könnten zum einen die Voraussetzungen eines Totschlags durch Unterlassen nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB und zum anderen diejenigen einer unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c StGB vorliegen.
aa) Tötung durch Unterlassen
124Voraussetzung für eine Strafbarkeit wegen Totschlags durch Unterlassen ist zunächst, dass der untätig Bleibende i.S.v. § 13 Abs. 1 StGB rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, also eine auf die Verhinderung des Todeseintritts gerichtete Garantenstellung innehat. Hiervon könnte zum einen bei Ehegatten und Familienangehörigen, zum anderen aber auch bei Hausärzten u.ä. ausgegangen werden, die die Pflege des Sterbewilligen übernommen haben. Unabhängig von der Frage, welche Personen im Einzelfall eine auf die Verhinderung der Selbsttötung gerichtete Garantenstellung innehaben, ist in diesem Zusammenhang jedoch zu erörtern, ob im Fall eines eigenverantwortlichen Suizids die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines daneben untätig Bleibenden nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Hintergrund ist der Umstand, dass zumindest im Fall eines eigenverantwortlichen Handelns des Suizidenten allein dieser das zum Tode führende Geschehen beherrscht, ihm also die Tatherrschaft zufällt. Da dies zur Folge hat, dass sich derjenige, der den Suizidenten aktiv unterstützt (etwa in der Form, dass er ihm die Schlaftabletten besorgt und überreicht) nicht strafbar macht, leuchtet nicht ein, warum eine Person, die nicht gegen den bereits in Gang gesetzten Sterbeverlauf vorgeht und hierdurch den Willen des Suizidenten respektiert, einer strafrechtlichen Verantwortung unterfallen sollte.
125Trotz dieser grundsätzlichen Bedenken hat der BGH in einer Entscheidung aus dem Jahr 1984 zu erkennen gegeben, dass er in entsprechenden Konstellationen eine Strafbarkeit des untätig Bleibenden aus einem unechten Unterlassungsdelikt prinzipiell für möglich erachtet. Zu beurteilen war ein Fall, in dem ein Arzt im Rahmen eines Hausbesuches erkannte, dass seine bereits bewusstlose 76-jährige Patientin Morphium und Schlafmittel in Selbsttötungsabsicht zu sich genommen hatte. Der Arzt unternahm nichts zu ihrer Rettung, da die Patientin ihm gegenüber mehrfach ausdrücklich ihren Sterbewillen bekundet hatte und der Arzt davon ausging, sie nicht ohne schwere Dauerschäden retten |59|zu können. Obgleich der BGH die Strafbarkeit des Arztes im konkreten Fall verneinte, wies er darauf hin, dass sich ein Garant in vergleichbaren Konstellationen grundsätzlich nach §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB strafbar machen könne. Zur Begründung führte er aus, dass ab dem Moment, in dem »der Suizident die tatsächliche Möglichkeit der Beeinflussung des Geschehens (›Tatherrschaft‹) endgültig verloren hat, weil er infolge Bewußtlosigkeit nicht mehr von seinem Entschluß zurücktreten kann, […] der Eintritt des Todes […] allein vom Verhalten des Garanten [abhänge]. In dessen Hand [läge] es nunmehr, ob das Opfer, für dessen Leben er von Rechts wegen einzustehen hat, gerettet wird oder nicht. In diesem Stadium des sich […] oft über viele Stunden hinziehenden Sterbens [habe] dann nicht mehr der Selbstmörder, sondern nur noch der Garant die Tatherrschaft und, wenn er die Abhängigkeit des weiteren Verlaufs ausschließlich von seiner Entscheidung in seine Vorstellung aufgenommen hat, auch den Täterwillen.«[212] Zusammenfassend nimmt der BGH also einen (ggf. strafbarkeitsbegründenden) Tatherrschaftswechsel ab dem Zeitpunkt an, in dem der Suizident selbst nicht mehr einschreiten kann, der Garant aber noch in der Lage ist, den Todeseintritt zu verhindern.
126In der Literatur ist der Ansatz des BGH stets auf weitgehende