Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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aufs Neue eine Wohltat für meine Augen war. Ich fragte mich, ob es wohl dort, wo ich bald hingehen würde, diese wunderbare Farbe gab. Julien neben mir scharrte mit den Hufen. Ich musste meine Schilderung beginnen, bevor er mich wieder anraunzte.

      „Also …“, fing ich an, „du wirst jetzt ein paar sehr erstaunliche Dinge hören, die dir vielleicht nicht immer gefallen werden. Ich werde dir alles erzählen. Doch ich habe eine Bedingung. Du musst dir erst alles anhören, bevor du einen Kommentar abgibst. Du kannst Fragen stellen, wenn du etwas nicht verstehst. Aber nur dann. Bist du einverstanden?“

      Julien sah mich erstaunt an. Eine solche Einleitung aus meinem Mund, das kannte er gar nicht. Ich übrigens auch nicht. Er nickte. „Okay.“

      „Gut. Frau Schmidt ist meine Großmutter.“

      Er klappte den Mund auf und wieder zu.

      „Ich habe es schon länger geahnt“, fuhr ich fort und dann erzählte ich ihm wirklich die ganze Geschichte. Er hörte sehr aufmerksam zu. Zwischendurch nahm er meine Hand und so liefen wir immer geradeaus den Waldweg entlang, ich redete, er nickte, staunte, litt mit mir. Als ich fertig war, blieb er stehen, drehte sich zu mir, nahm auch meine andere Hand, schaute mir in die Augen und fragte: „Wann wirst du gehen?“

      Das war der Julien, den ich liebte. Und der es mit dieser Reaktion fertigbrachte, dass mir fast das Herz brach, als ich ihm antwortete. „Sobald ich hier alles geregelt habe. Länger als acht bis zehn Tage werde ich nicht brauchen.“

      „Aber du weißt, dass du wegen der Kameradschaft nicht mehr gehen musst. Die Bandenkriminalität, die Mordkommission und eine Soko NS-Verbrechen sind auf sie angesetzt.“

      Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das wusste ich nicht. Allerdings beruhigt es mich auch nicht. Sie haben den Menschen auf dem Gewissen, der mir am meisten bedeutete, und sie konnten es unter euren Augen tun. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich gehe. Ich muss nach meinen Wurzeln suchen, ich muss meine Leute finden. Großmutter glaubte an die Kolonie in Südamerika und ich kann mir nicht vorstellen, dass es außer unserer Familie keine Lintu mehr gibt. Ich habe mich mein ganzes Leben nach anderen gesehnt, die so sind wie ich. Jetzt, wo ich weiß, wo ich herkomme, werde ich nicht aufgeben, bis ich sie gefunden habe.“

      Es fehlte nur noch etwas dramatische Musik, um meine Worte zu unterstreichen. In den Heldenfilmen kam die immer an dieser Stelle. Die Kulisse und die Protagonisten stimmten schon mal. Deshalb zog ich mein Handy hervor und wählte eins der tragischen Lieder, die ich gespeichert hatte. Julien sah mich fragend an, während ich mitten im Wald mein jaulendes Handy in der Hand hielt.

      „Die musikalische Untermalung meiner Rede“, erklärte ich schulterzuckend. Ich fühlte mich plötzlich total unwirklich, die ganze Szene hatte etwas Surreales. Was tat ich hier? Was redete ich da? Wer war dieser Mann vor mir? Was war das für ein Körper, in dem ich steckte? Das war doch eine schlechte Komödie, die hier ablief. Ich fing an zu kichern und konnte nicht mehr aufhören.

      Julien hob die Augenbrauen. „Du bist echt gestört, Elli. Komm her.“ Er zog mich an seine Brust und schlang die Arme um mich. Es dauerte nicht lange, bis ich mich wieder beruhigte. Eine ganze Weile sagte keiner von uns etwas, dann flüsterte er: „Warum gibst du mir nicht die Tagebücher und sagst gegen die Brüder aus, dann stecke ich dich ins Zeugenschutzprogramm. Du musst nicht gehen. Du kannst auch von hier aus suchen.“

      Ich schwieg und setzte mich wieder in Bewegung. Julien beeilte sich, an meiner Seite zu laufen. „Hast du keine Angst? Ich hab Angst. Um dich!“

      „Um mich habe ich keine Angst. Nur um meine Familie, um Olivia, meine Eltern. Wenn die Kameradschaft sie findet, wird sie sie umbringen. Kannst du sie nicht beschützen?“

      „Wie gesagt, wir haben das Zeugenschutzprogramm. Ich kann deine Familie mit hineinnehmen.“

      „Das würde bedeuten, dass wir von hier weg müssten, eine neue Identität annehmen, richtig?“

      Julien nickte.

      „Ich werde mit meinen Eltern sprechen. Olivia ist ja gerade in New York. Als Aupair. Sie hat noch ein halbes Jahr. Keine Ahnung, was sie vorhat, wenn sie zurückkommt.“

      Julien sah mich erstaunt an. „Das heißt, du bist einverstanden?“

      War ich nicht wirklich. Und ich musste mir erst einmal über die verschiedenen Optionen klarwerden, bevor ich ihm antworten konnte. Dass meine Eltern sich auf dieses Zeugenschutzprogramm einlassen würden, war kaum vorstellbar. Jede Veränderung ängstigte sie. Dennoch musste ich es versuchen. Wenn die Kameradschaft es darauf angelegt hatte uns auszurotten, würde sie früher oder später meine Familie ausfindig machen. Auch bei Olivia war ich mir unsicher. Aber sie war im Augenblick weit weg und die Kameradschaft würde sie nicht so schnell finden. Bis dahin hätte ich vielleicht Zeit genug, sie zu überzeugen.

      Die Tagebücher von Großmutter konnte ich Julien auf gar keinen Fall aushändigen. Wahrscheinlich hatte er nicht daran gedacht, dass sie von einer Lintu für ihre Familie geschrieben waren. Außerdem waren sie das einzige, was ich von ihr besaß. Wenn man von Simóns Amulett absah. Doch ich konnte ihm eine Kopie der Liste geben, die im dritten Buch verzeichnet war. Vielleicht genügte das. Wie ich selbst gegen die Kameradschaft aussagen sollte, war mir ein Rätsel. Beim ersten Überfall hatten wir die Verfolgung auf Verdacht aufgenommen und während der Jagd hatte ich die Verbrecher angegriffen und absichtlich verletzt. Auch beim zweiten Mal war es schon vorbei gewesen und ich hatte überhaupt niemanden zu Gesicht bekommen. Außerdem hatte ich wieder etwas getan, was nicht legal war. Wie kam Julien auf die Idee, dass davon etwas für die Anklage verwertbar sein könnte?

      Meine Überlegungen brauchten mehr Zeit, als Juliens Geduld mir zugestehen wollte. Er konnte kaum stillhalten und ließ sich mehrmals zu auffordernden Gesten hinreißen. Als ich endlich den Mund aufmachte, atmete er laut aus, als hätte er während der ganzen Zeit die Luft angehalten.

      „Also, ich kann es mir nur unter bestimmten Bedingungen vorstellen“, begann ich. „Erstens, die Bücher kannst du nicht haben. Es steht zu viel übers Fliegen drin. Aber ich kann dir eine Kopie der Liste geben, die Großmutter von den Mitgliedern der Kameradschaft und den Francotypen angefertigt hat. Zweitens, ich werde weggehen, ob ich im Zeugenschutzprogramm bin oder nicht. Drittens, ich sage nicht aus. Ich habe gar nichts zu bezeugen.“

      „Du machst das mit dem Programm nur für deine Familie, stimmts?“

      „Und du möchtest nur eine Aussage von mir, damit du uns in Programm bekommst, stimmts?“

      Er nickte. Ich nickte. Er grinste. Ich grinste. „Also abgemacht?“

      „Abgemacht.“

      Während ich nachgedacht hatte, war mir aufgefallen, dass Julien zu meiner ganzen Geschichte nur diese eine Frage gestellt hatte, wann ich gehen würde. Er hatte sich nicht darüber beschwert, dass ich ihm die Tagebücher verschwiegen hatte und dass Großmutter meine Großmutter war, und dass ich sie schwerverletzt nicht ins Krankenhaus gebracht hatte, sondern auf einen spanischen Friedhof. Und über meine Bedingungen jetzt beschwerte er sich auch nicht.

      „Julien, was ist eigentlich los mit dir? Du akzeptierst alles, was ich sage, und schimpfst nicht. So kenne ich dich gar nicht.“

      „Es ist umgekehrt, Elli, ich kenne dich nicht. Du warst schon immer irgendwie besonders, aber jetzt bist du so besonders, dass ich das Gefühl habe, ich weiß nichts von dir.“ Er machte eine kleine Pause. „Ich bin ja Outings gewöhnt. Und dass die Welt oft auf dem Kopf steht danach. Aber mit dir – da ist das bisschen Kopfstehen Peanuts. Meine Welt ist komplett aus den Fugen geraten!“

      „Findest du nicht, du übertreibst?“, warf ich ein.

      „Nein, finde ich nicht. Du hast so mir nichts dir nichts ein physikalisches Gesetz ausgehebelt. Das hätte ich allerhöchstens einem Erleuchteten im Himalaya zugestanden. Und die sind selten genug und so weit weg, dass sie nicht bedrohlich wirken. Aber du bist hier neben mir und eröffnest mir auch noch, dass es mehr von deiner Sorte gibt. Wer weiß, was sonst noch so heimlich herumlaboriert hier. Vielleicht Leute mit Röntgenblick oder welche, die sich in Tiere verwandeln können oder Unsichtbare