Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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wir beide so glücklich waren. Kurz darauf war Simón tot. Großmutter lächelte. Jetzt dauert es nicht mehr lang, dann sehe ich ihn wieder.

      Ich wollte gar nicht daran denken. Tat so, als hätte ich diesen Satz nicht gehört – was natürlich bei unserer Kommunikation unmöglich war.

      Was für eine schöne Erinnerung. Danke, Großmutter. Ich hätte ihn wirklich gern kennengelernt.

       Ja, ihr hättet euch gut verstanden. Du bist ihm in einigen Dingen sehr ähnlich.

      Worin denn?

       Zum Beispiel liebte er es, den Flug der Vögel zu imitieren und sich Kunststücke auszudenken, die er dann stundenlang übte. So wie du …

      Ich war verblüfft.

      Woher weißt du das?

       Ach Elli, ich habe viele Nächte auf unserer Wiese über dich gewacht!

      Ich spürte einen Stich in der Magengegend. Sie hatte mich gesehen und nie etwas gesagt. Und jetzt war es zu spät. Jetzt starb sie. Schnell überprüfte ich meine Pforten. Dicht. Gut. Mein Unmut hatte hier nichts zu suchen. Ich würde ihn überwinden. Keine Vorwürfe.

      Elli, kannst du mir verzeihen? Ihre Stimme klang ein wenig verzagt.

      Wie sollte ich meiner sterbenden, geliebten Großmutter nicht verzeihen können? Ich schickte alle Wärme, derer ich mächtig war, in ihre Richtung, wollte ihr alles geben, was in meiner Macht stand, damit sie sich in diesen letzten Stunden so wohlfühlen konnte, wie die Situation es zuließ.

      Ja, natürlich kann ich dir verzeihen. Ich liebe dich, und ich bin dankbar für jede Sekunde, die du mir geschenkt hast.

      Danke, flüsterte sie.

      Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass wir an einem Punkt angekommen waren, an dem nicht mehr viel gesagt werden musste. Natürlich hätte ich unendlich viele Dinge noch gern gewusst, aber ich konnte jetzt aufhören, sie wissen zu müssen. Ein innerer Frieden breitete sich in mir aus. Großmutter unterbrach ihn jäh, als sie mich auf die Felsspalte hinwies, den Eingang zum Valle.

      Wir waren fast da.

       5. Kapitel

      Hätte Großmutter mir die Felsspalte nicht gezeigt, ich wäre glatt vorbeigeflogen. Etwa dreißig Meter über uns war das kleine V zu sehen, von dem sie gesprochen hatte. Die Felsen ragten hier fast senkrecht in den Himmel. Die Spalte begann dort oben und endete mehrere Meter unterhalb von uns. Sie war höchstens achtzig Zentimeter breit und verjüngte sich nach unten. Ich konnte nur ein paar Meter weit hineinsehen, dann wurde es dunkel. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass sie irgendwo hinführen könnte. Das war der bestgetarnte Eingang, den ich mir vorstellen konnte. Besser als in jedem Abenteuerfilm.

      Da hinein, hörte ich in meinem Kopf. Du musst langsam fliegen, es geht ein paar Mal um die Ecke.

      Bleibt es so schmal?

       Ja, aber es wird auch nicht schmaler.

      Wie lange fliegen wir?

       Eine Weile.

      Na prima. Ich stellte fest, dass ich nicht so mutig war, wie ich immer gedacht hatte.

       Keine Angst. Die Felsen rücken nicht zusammen, während wir durchfliegen. Keinem Lintu ist jemals etwas passiert. Im Gegenteil, sie schützen uns.

      Okay.

      Ich holte tief Luft und schwebte hinein. Nach kurzer Zeit herrschte Finsternis um uns herum. Kein Lichtstrahl drang von oben herab. Trotz angestrengten Starrens konnte ich auch nicht mehr erkennen, wo die Spalte sich oben öffnete. Gegen die Schwärze waren sogar meine Nachtsichtaugen machtlos. Ich musste meine anderen Sinne benutzen, wenn ich vorwärts kommen wollte. Großmutter lag still auf meinem Rücken. Kein Mucks war von ihr zu hören. Ich lauschte in die Dunkelheit und versuchte gleichzeitig, die Wände links und rechts von mir zu spüren. Solange es geradeaus ging, war ja alles in Ordnung, aber wenn eine Kurve käme, wollte ich nicht an die Felswand brummen. Mit weit aufgerissenen Augen und Ohren schwebte ich langsam vorwärts. Nach einer Weile schärfte sich meine Wahrnehmung. Von den Felswänden ging ein eigener Geruch aus. Die Temperatur der Wände war geringfügig anders als die der Luft, die von vorn kam. Ein kaum spürbarer Zug bewegte die Luft in der Mitte der Spalte stärker als direkt an den Felswänden. Bald bemerkte ich weit im Voraus, wann es um die Ecke ging. Keine Ahnung, mit welchem Sinn ich das wahrnahm. Es kam mir vor, als hätte ich unsichtbare Fühler, die die Umgebung vor mir abtasteten.

      Langsam formte sich aus all den Details eine Art Bild vor meinem inneren Auge, ich bekam ein Gespür für die Dimension dieser Felsspalte. Sogar die Zeit, die wir bis hierher gebraucht hatten, wurde in eine Längenangabe über den Weg umgewandelt. Das machte mich etwas mutiger und ich erhöhte das Tempo. Meine Wahrnehmung erweiterte sich noch immer. Ich konnte mich an keine Situation erinnern, in der ich so verschiedene, eher schwache Eindrücke zu einem so verlässlichen Bild hatte formen können. Dann plötzlich eine neue Information, der Luftzug nahm zu. Wir mussten uns dem Ausgang nähern. Vor mir sah ich einen schwachen Lichtschein, der sehr schnell heller wurde – und dann waren wir draußen.

      Das Tal war – anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Es hätte ein weites, sonnenbeschienenes Tal mit üppiger Vegetation sein sollen. In jedem Fantasyfilm, zumal, wenn es durch einen engen Eingang ging, durfte man einen solchen Anblick erwarten. Das hier war Realität. Nicht schlechter, nur eindeutig anders. Das Tal war schmal, die hohen Felswände links und rechts ließen es eher wie einen Canyon aussehen, obwohl es keine Anzeichen für ein Flussbett gab. Die Talsohle wurde wahrscheinlich nur in der kurzen Mittagszeit von der Sonne beschienen. Jetzt, zur frühen Morgenstunde, war das Tal schattig und kühl. Es gab eine Reihe weit auseinanderstehender Bäume, Pinien, so wie es aussah. Sie hatten mächtige Stämme und Kronen und waren sehr hoch. Ich bezweifelte, schon jemals so hohe Pinien gesehen zu haben. Ob sie dem Sonnenlicht entgegengewachsen waren? Außer diesen Bäumen war keine erkennbare Vegetation vorhanden. Ich konnte Vögel zwitschern hören, eine laue Brise wehte, sonst war es still. Ja, dieses Tal war ein guter Ort, um seine Toten zu bestatten. Unsere Toten. Eine in sich ruhende Komposition der Elemente. Hier konnte der letzte irdische Weg ruhig und klar begangen werden.

      Großmutter?

       Ja, wir haben es geschafft. Flieg zu dem Baum am hinteren Ende des Valle. Dort habe ich Simóns Amulett aufgehängt.

      Ich flog langsam. Alle Eile war draußen, in der Welt vor der Felsspalte, zurückgeblieben.

      Obwohl die Bäume wirklich groß waren, reichten sie nicht bis an den Rand des Tals hinauf. Der Kamm lag viele Meter weiter oben. Hier waren wir wirklich geschützt. In den Baumkronen konnte ich die Plattformen erkennen. Sie waren zwischen die Äste geflochten. Daneben, an den unteren Ästen, hingen die Amulette. Am letzten Baum stellte ich mich mit Großmutter in die Luft, damit sie die Amulette anschauen konnte. Großmutter bewegte sich nicht, sie schickte das Bild von Simóns Amulett in meinen Kopf. Ich machte mich auf die Suche. Auf den Anhängern waren verschiedene Tiere dargestellt, wunderschön verziert. Die Amulette waren alle aus dem gleichen Material. Es schien eine Art Metall zu sein, das ich nicht kannte und das offensichtlich alterungsbeständig war. Sie wirkten alle, als seien sie eben erst aufgehängt worden. Simóns Amulett bildete einen Wolf ab.

      Ich habs gefunden.

       Zeig es mir.

      Ich spürte, dass sie nicht mehr viel Kraft hatte. Sie würde es wohl kaum mit den Augen ansehen wollen, so wenig wie sie in der Lage gewesen war, selbst nach dem Amulett zu suchen. Also betrachtete ich es und schickte ihr das Bild.

      Das ist das Amulett von Simón. Der einsame Wolf. Wölfe sind eigentlich Rudelwesen, doch ab und zu gibt es einen, der sich allein aufmachen muss. Sie schwieg einen Augenblick. Bring mich jetzt zur Plattform.

      Die Plattform war aus weichen Seilen kunstvoll zwischen mehrere Äste geflochten. Sie machte einen