Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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hier keine großen Wettereinflüsse zu geben, die das Material geschwächt hätten. Ich krallte mich von unten in das Geflecht und gab kurz den Schwebezustand auf, um mit meinem Gewicht zu prüfen, ob sie uns aushalten würde. Großmutter wurde sofort schwächer. Damit hatte ich zwar gerechnet, aber es schockierte mich doch und ich beeilte mich, in den Schwebezustand zurückzukehren. Wir würden uns früh genug trennen müssen. Dann schwebte ich hinauf und legte mich mit ihr auf die Matte. Eine lange Zeit rührte ich mich nicht. Warum konnte ich nicht einfach immer so liegen bleiben? Ich fürchtete mich davor, sie loszubinden.

       Elli?

      Ja?

       Lass mich jetzt gehen.

      Warum?

       Ich habe keine Kraft mehr. Der Schwebezustand zögert das Ende nur hinaus. Es ist jetzt so weit.

      Wirklich?

       Du weißt es.

      Ja.

       Wenn du mich losgebunden hast, hol mir das Amulett von Simón.

      Okay.

      Behutsam machte ich mich an die Arbeit. Die Knoten waren fest, die meisten musste ich mit dem Taschenmesser aufschneiden. Während ich sie löste, achtete ich sorgfältig darauf, den Körperkontakt nicht zu verlieren. Gab Großmutter alles an Kraft, was ich erzeugen konnte, bettete sie vorsichtig auf die zerschnittene Decke. Dann spähte ich nach dem Amulett, berührte sie nur noch mit meinen Beinen. Brachte mich in Position und schoss auf dem kürzesten Weg nach unten. Schnappte das Amulett im Sturzflug und war wie der Blitz zurück. Großmutter hatte die Augen geschlossen und regte sich nicht. Ihre Wunde blutete wieder. Ich berührte sie. Die Verbindung entstand nicht mehr von allein. Erst, als ich mich ganz auf sie konzentrierte, ließ sie sich wieder herstellen. Großmutter war sehr schwach, ich konnte sie kaum noch wahrnehmen.

      Großmutter?

      Sie hatte mich gehört, antwortete aber nicht.

      Hier ist das Amulett.

      Ich nahm ihre Hände und legte es hinein. Spürte, wie sie sich sammelte. Nach einer Ewigkeit hörte ich endlich ihre Stimme in meinem Kopf. Sie sprach sehr langsam.

       Leg das Amulett an. Es wird dir Kraft geben auf deinem Weg, den du noch eine Weile allein gehen musst. Unser allmächtiger Schöpfer gebe, dass du neue Gefährten findest.

      Aber es gehört zu dir und Simón.

       Mach meine Bluse auf.

      Ich sparte mir eine dumme Nachfrage und öffnete die obersten Knöpfe ihrer Bluse. Doch da war nichts.

       Weiter unten.

      Vorsichtig knöpfte ich die Bluse ganz auf. Achtete darauf, den Stoff über ihrer Wunde nicht zu bewegen. Um ihre Taille lag ein Amulett. Es zeigte einen Wolf, wie das von Simón.

       Wir werden immer verbunden sein. Leg Simóns Amulett jetzt um.

      Ich zögerte noch.

       Es ist für dich bestimmt. Du hast das gleiche mutige Herz wie er. Wenn die Zeit gekommen ist, gib mein Amulett an deine Schwester weiter.

      Okay.

      Ich nahm das Amulett aus ihren Händen und legte es um meine Taille. Das Band war so gearbeitet, dass es sich mühelos an meine Größe anpassen ließ. Glatt und kühl lag das Amulett auf meiner Haut. Es war weniger schwer als es aussah. Ich hatte das Gefühl, gerade meine zweite Initiation zu erleben.

      Es wird dich beschützen. Großmutters Stimme wurde immer schwächer. Schau mich an.

      Ich blickte in ihr liebes faltiges Gesicht. Sie öffnete die Augen und sah mich an. Wo nahm sie jetzt noch all die Wärme her, mit der sie mich betrachtete?

      Ich gehe jetzt. Leb wohl, meine tapfere Elli. Sie schloss die Augen wieder.

      Leb wohl, Großmutter. Grüße Simón von mir. Und hol mich ab, wenn ich so weit bin.

       Das werde ich. Aber komm nicht so schnell. Du hast noch ein Leben zu leben.

      Ich blieb stumm. Hielt ihre Hand, schickte ihr all meine Liebe, umhüllte ihren müden Körper und ihren schwindenden Geist.

      Ihre Schwingungen wurden immer schwächer.

      Und dann – plötzlich – war sie weg.

      Und ich …

      saß neben ihr.

      Hielt ihre Hand.

      Sah sie an. Sah ihren Körper an.

      Starrte.

      Saß.

      Hielt ihre Hand.

      Starrte.

      Schloss die Augen.

      Atmete.

      Weinte.

      Saß.

      Weinte. Heulte.

      Hielt ihre Hand.

      Heulte. Wie der Wolf auf meinem Amulett. Unserem Amulett.

      Legte mich neben sie.

      Weinte.

      Wollte nie mehr aufstehen.

      Hörte auf zu weinen.

      Rührte mich nicht mehr.

      Die Sonne wanderte über den Himmel.

      Ich lag.

      Es war heiß. Schweiß lief mir übers Gesicht.

      Es wurde dunkel.

      Ich rührte mich nicht.

      Der Mond ging auf und wieder unter.

      Ich starrte.

      Rührte mich nicht.

      Es wurde hell.

      Ich rührte mich nicht.

      Konnte nichts tun.

      In mir war alles leer.

      Keine leere Leere. Eine dichte Leere.

      Da, wo ihre Schwingungen gewesen waren, war es jetzt dicht.

      Wie Stein. Wie Fels. Wie das Gebirge um mich herum.

      Alles in mir drin – dicht. Und leer.

      Ihre Schwingungen fehlten.

      Also lag ich.

      Rührte mich nicht.

      Wartete.

      Das konnte ich tun. Warten.

      Keine Ahnung worauf.

      Einfach warten.

      Auf einen Impuls vielleicht. Eine Idee. Eine Regung.

      Irgendetwas, das die Leere füllte.

      Das die Dichte weniger dicht machte.

      Das – lebte.

      Die Sonne wanderte über den Himmel.

      Ich lag.

      Wartete.

      Die Vögel zwitscherten.

      Grillen zirpten nicht. Es gab keine Grillen hier. Es gab Vögel hier.

      Und Stille.

      Und sie.

      Ich drehte mich um zu ihr.

      Starrte sie an.

      Wollte meine Hand heben, sie streicheln. Konnte nicht.

      Konnte nur liegen.

      Und warten.

      Die Vögel gaben den Ausschlag.

      Nicht die kleinen. Die großen. Die über uns am Himmel