»Dort kümmern wir uns um Thurisaz«, sagte Mara und wollte gerade noch einen markigen Spruch über Eichhörnchen, Puschelschwänze und einen Tacker loswerden, als sie der Blick des Professors verstummen ließ. Gleichzeitig knirschte etwas, ein lautes Zischen war zu hören, die Straße verdunkelte sich, und Mara fuhr erschrocken herum.
Sie blickte auf einen Truck.
Kapitel 6
Eine Zugmaschine mitsamt riesigem Anhänger hatte direkt hinter ihnen angehalten, und gerade stieg der Fahrer erstaunlich leichtfüßig aus. Das war deswegen so erstaunlich, weil der Fahrer zu den dicksten Menschen gehörte, die Mara jemals live und in Farbe gesehen hatte.
»Alles okay?«, fragte er mit einer freundlich singenden Stimme, und Mara konnte nicht anders. Sie mochte ihn sofort.
»Es geht so«, antwortete Professor Weissinger. »Es würde uns in der Tat etwas besser gehen, wenn Sie uns ein Stück mitnehmen würden. Wir wollen Richtung Osnabrück, aber unser Auto … äh …«
»Schon klar«, nickte der Trucker. »Sind ein paar echt komische Sachen passiert in der Nacht. Ihr Karren ist nicht der einzige, der den Geist aufgegeben hat. Na, dann steigen Sie ein. Ist genug Platz.« Er lachte kurz und zeigte mit beiden Händen auf seinen gigantischen Bauch. »Trotz dem da.«
»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen«, bedankte sich der Professor.
Sie erkletterten den erstaunlich hoch gelegenen Führerstand des Trucks auf der Beifahrerseite, und Mara sah sich um.
»Ist ja echt viel Platz hier drin«, sagte sie. Dann erst entdeckte sie die kleine Schlafkabine hinter den Sitzen. »Cool.«
»Yep«, machte der Trucker und grinste. »Kannst gern mal hinten reinklettern, aber ich sag’s gleich: Hab nicht aufgeräumt.«
Mara beließ es bei einem Blick, denn irgendwie fühlte sie sich unwohl bei dem Gedanken, auf dem Bett von irgendwem herumzukrabbeln. Stattdessen setzte sie sich auf den mittleren Platz zwischen dem Fahrer und dem Beifahrer.
»Hey!«, rief der Trucker plötzlich erschrocken und begann wild mit den Armen zu wedeln. »Schh! Schh! Raus!«
»Krah Krah«, sagten Hugin und Munin, machten aber keine Anstalten das Führerhaus zu verlassen. Seelenruhig setzten sie sich neben den Professor auf das geräumige Armaturenbrett und blickten stumm umher. Der Fahrer sah Mara und den Professor verwundert an. »Äh … gehören die irgendwie … zu euch?«
»Ja«, sagte der Professor.
»Nein«, sagte Mara im selben Moment, und sie sahen sich kurz irritiert an.
»Was Mara meint, ist, dass sie uns natürlich nicht gehören, weil wir sie nicht zwingen bei uns zu bleiben. Wir wollten sie eigentlich mit dem Auto zum Tierarzt in Osnabrück bringen, um sie mal wieder auf Würmer und ähnliches zu überprüfen«, log Professor Weissinger. Wie immer klang es aus seinem Mund als wäre das nichts als die Wahrheit. Mara nickte eifrig, und selbst das kam ihr im Vergleich zu der routinierten Lüge des Professors viel zu aufgesetzt vor.
Hugin und Munin war allerdings deutlich anzusehen, dass ihnen der Teil mit den Würmern nicht so richtig gut gefallen hatte. Trotzdem blieben sie erfreulich still und bemühten sich um einen möglichst rabigen Eindruck.
Der Trucker nickte schließlich. »Aha. Okay. Aber nicht dass die mir hier die Armaturen vollkacken.«
»Krah!«, erwiderte Munin, und die beiden Raben drehten sich beleidigt weg. Ein Moment der Stille kehrte ein, als der Fahrer von den Raben zu Mara und dem Professor und dann wieder zu den Raben sah. Doch dann zuckte er mit den Achseln und wandte sich seinem Zündschlüssel zu.
»Krasse Viecher«, bemerkte er, als er den mächtigen Motor anließ. »Seid ihr Zirkusleute oder so was?«
»Nein, wir haben einfach nur beide jeweils einen Vogel«, antwortete der Professor und grinste Mara an. »Verzeih diesen unsäglichen Witz, den will ich schon seit Längerem anbringen.«
»Schön, dass wir es jetzt hinter uns haben«, gab Mara trocken zurück und schnallte sich an.
»Also, ich bin der Willi«, stellte sich der Trucker vor und ließ den Motor an, als sie in die nahe Auffahrt zur Autobahn einbogen. »Und ihr?«
»Mara und Reinhold Weissinger«, antwortete der Professor. »Sie ist meine Nichte.«
»Freut mich«, sagte Willi und lächelte freundlich. »Ist es okay, wenn ich Musik anmache?«
»Kommt drauf an«, murmelte Mara, die nichts nerviger fand als den Einheitsbrei der einschlägigen Radiosender.
Aber der Professor sah sie tadelnd an. »Nur zu! Wer fährt, bestimmt.«
Willi grinste und drückte eine Taste an seinem Lenkrad. Mara betrachtete das Lenkrad genauer und erkannte, dass er von dort wohl auch die Lautstärke und den CD-Player bedienen konnte. Praktisch. Vor allem für ihn, denn vermutlich hätte er Schwierigkeiten gehabt, das Radio über seinen mächtigen Bauch hinweg zu erreichen.
Doch nun war sie erst einmal verwundert, als ihr aus den Boxen nicht Das Beste der Achtziger, Neunziger und von heute entgegenschepperte. Stattdessen hörte sie ein paar Akkorde aus akustischen Gitarren. Und dann eine Männerstimme, die man nicht anders als »samtig« bezeichnen konnte.
Ev’rybody gonna pray
On the very last day
»Na, das passt ja«, ließ sich der Professor vernehmen. Und da stimmten auch schon zwei weitere Stimmen ein.
Ev’rybody gonna pray
To the heavens on the judgement day
Da Mara sich immer schon für die Texte der Songs interessiert hatte, die ihr auch ansonsten gefielen, konnte sie gut genug Englisch, um zu verstehen, um was es in diesem Lied ging. Leise stöhnte sie auf.
»Judgement Day … Die singen nicht wirklich vom Weltuntergang, oder?«, fragte sie in die Runde und der Professor lachte trocken auf. »Ich bin ehrlich gesagt auch etwas baff. Das nenn ich mal einen Zufall.«
Willi kicherte ebenfalls: »Ja, das passt echt ganz gut auf diese Sache von der letzten Nacht. Kann mir vorstellen, dass ein paar Leute gedacht haben, die Welt geht unter. Das muss man sich mal vorstellen: Der Tankwart aus dem Ort hinter uns hat mir erzählt, dass ihm der gesamte Inhalt seiner Kühlschränke um die Ohren geflogen ist. Und er schwört bei allem, was ihm heilig ist, dass die Getränke aus den Flaschen und den Dosen einfach nur rauswollten, weil …« Er machte eine Pause als würde er erst jetzt darüber nachdenken. »… weil sie irgendwohin wollten …« Willi runzelte die Stirn und schwieg. Eine Weile hörten sie still dem Song zu.
Get ready, brother, for that day
Ev’rybody gonna pray
When you hear that bell
Ring the world away
»Wenn du die Glocke hörst, die die Welt wegbimmelt?«, fragte Mara stirnrunzelnd.
»Na ja, so ähnlich. Auf Deutsch würde man wohl eher sagen, die Glocke läutet das Ende der Welt ein«, antwortete Professor Weissinger. Aber ihm war anzusehen, dass ihn das Lied auch nicht gerade fröhlicher machte. Trotzdem übte der Text zusammen mit dem eindringlichen Gesang der drei Stimmen eine seltsame Anziehungskraft auf sie aus. Es war fast unmöglich, sich dem Song zu entziehen. Oder ging es nur ihnen so, wegen all des Weltuntergangswahnsinns?
Ev’rybody gonna pray