Ein heller Fanfarenstoß von einem der Türme beendete ihr Gespräch, als die Elben durch das weit geöffnete Tor ritten. Sie bildeten ein beidseitiges Spalier, durch das Eibon herankam. Unmittelbar vor Charalon und Maziroc zügelte er sein Pferd und stieg ab. Wie alle Elben sah er trotz seines extrem hohen Alters immer noch jung, fast jugendlich aus, und auch sein Haar war immer noch voll und strahlend weiß. Lediglich ein Blick in seine grünen Augen, in denen ein ungeheuerer Schatz an Wissen und Lebenserfahrung geschrieben stand, vermochte einem aufmerksamen Beobachter eine Ahnung davon zu vermitteln, wie alt der Elbenkönig in Wahrheit war.
"Ich grüße Euch, Eibon Bel Churio. Seid uns in Cavillon herzlich willkommen", begrüßte Charalon ihn und deutete eine Verbeugung an.
"Gruß auch Euch, Charalon, Oberhaupt des Ordens der Magier. Wir nehmen Eure Gastfreundschaft mit Freude und Dankbarkeit an", erwiderte Eibon den rituellen Gruß. Gleich darauf umarmten sich die beiden Männer freundschaftlich.
"Du warst schon lange nicht mehr hier", stellte Charalon fest, nun sämtliche Formalitäten bei der Anrede fallen lassend.
"Ich habe die Hohe Festung überhaupt schon lange nicht mehr verlassen", erklärte der König der Elben. "Allmählich macht mir das Alter doch immer stärker zu schaffen. Meine Gesundheit ist längst schon nicht mehr die beste, und dies wird mit Sicherheit mein letzter Besuch hier sein. Ich werde sterben, mein Freund, schon bald. Aber vorher wollte ich Cavillon noch einmal sehen."
"Du übertreibst wie üblich", widersprach Charalon. "Ich bin fest davon überzeugt, dass du noch viele Jahre vor dir hast."
"Nein, nein, diesmal nicht", erklärte Eibon. "Machen wir uns nichts vor. Aber ich habe ein langes und erfülltes Leben gehabt, dazu noch ereignisreicher als das vieler anderer, sodass mich der Gedanke an den Tod nicht schreckt. Es gibt wesentlich Schlimmeres, und das ist der zweite, der Hauptgrund, aus dem ich persönlich hergekommen bin."
"Wir dachten uns bereits, dass Ihr schlechte Nachrichten bringt", mischte sich Maziroc ein, obwohl er sich in diesem Punkt gerne geirrt hätte. "Allerdings ist ..."
Er wurde unterbrochen, als sich von hinten eine Frau mit langen, dunklen Haaren zwischen ihm und Charalon hindurch zwängte. "Der Bund der Vingala möchte Euch ebenfalls in Cavillon willkommen heißen", wandte sich Shalana, die Sprecherin der Hexen, an den Elbenkönig. Mit ihrer schlanken Figur und ihrem liebreizenden Gesicht hätte sie eine wunderschöne Frau sein können, wenn sich nicht ein ständiges Misstrauen und eine Streitlust in ihre Züge gegraben hätten, die sie bereits frühzeitig verhärmt aussehen ließen. "Außerdem verlangen die Vingala, an allen wichtigen Besprechungen teilnehmen zu können."
"Auch Eure Gastfreundschaft nehmen wir mit Freude und Dankbarkeit an", erwiderte Eibon. Wenn ihn das Verhalten der Hexe verwunderte, so zeigte er es zumindest nicht. "Und wir hegen keinerlei Wunsch, Euch in irgendeiner Form auszugrenzen. Was wir zu besprechen haben, betrifft jeden, nicht nur hier in Cavillon, sondern möglicherweise in ganz Arcana." Er wandte sich wieder an Charalon. "Deshalb möchte ich dich bitten, möglichst schnell eine Versammlung einzuberufen. Ich bringe wichtige Kunde."
"So soll es geschehen", erklärte Charalon mit einem Nicken. "Man wird dir und deinen Begleitern eure Quartiere zeigen, damit ihr euch frisch machen und kurz erholen könnt, und in einer Stunde treffen wir uns alle im großen Sitzungssaal."
*
Gespanntes Schweigen erfüllte den riesigen Saal mit dem gläsernen, von marmornen Pfeilern gestützten Kuppeldach, durch das helles Sonnenlicht hereinfiel. Mehr als achtzig Magier und rund dreißig Hexen hatten sich an einem langen, ovalen Tisch versammelt, und die meisten hatten sich dem Anlass entsprechend herausgeputzt. Widerwillig hatte auch Maziroc sein mit zahlreichen Bordüren und sonstigen Verzierungen besetztes Festgewand angelegt, obwohl er es nur äußerst ungern trug. Er war kein großer Freund von Pomp und förmlicher Etikette, außerdem spannte das Gewand mittlerweile ziemlich an den Hüften. Es lag Jahre zurück, dass er es zuletzt getragen hatte, und obwohl er es sich nur widerwillig eingestand, war er längst nicht mehr so schlank wie früher, sondern hatte gerade in den letzten Jahren deutlich zugenommen.
Nur vereinzelt war leises Getuschel im Saal zu hören, aber auch das brach schlagartig ab, als Eibon den Raum betrat. Er hatte sich ebenfalls umgezogen; anstelle der sandfarbenen Kutte trug er nun das weiße, mit zahlreichen Goldstickereien versehene Prachtgewand der Elbenkönige, und er hatte auch auf eine größere Eskorte verzichtet. Lediglich zwei seiner Krieger begleiteten ihn, doch auch diese hatten ihre Kettenhemden und die Waffen abgelegt. Sie blieben in respektvollem Abstand hinter ihrem König stehen, als dieser seinen Platz neben Charalon an einem der Kopfenden des Tisches einnahm.
"Ich habe diese weite Reise unternommen und diese Versammlung einberufen lassen, um euch von einer gefährlichen Entwicklung zu berichten, die sich im Süden der Nordermark und möglicherweise sogar bis hinunter in die Barbarenländer angebahnt hat", begann er, nachdem er seinen Blick einige Sekunden lang über die Anwesenden hatte schweifen lassen. "Bereits vor über einem Monat haben wir die ersten Gerüchte gehört, dass einige Höfe und kleinere Dörfer in dieser Gegend überfallen und niedergebrannt worden sein sollen. Deshalb haben wir mehrere Späher in dieses Gebiet geschickt. Wir dachten zunächst, es würde sich um einen ausgedehnteren Raubzug der Hornmänner handeln, von denen man in letzter Zeit immer wieder hört. Die Überfälle trugen ihre Handschrift."
"Verzeiht, wenn ich Euch unterbreche, aber was versteht Ihr unter der Handschrift der Hornmänner?", ergriff Shalana das Wort. Maziroc war davon überzeugt, dass sie sehr genau wusste, wovon Eibon sprach, dass sie die günstige Gelegenheit aber nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte, sich selbst wieder in den Vordergrund zu drängen. Er kannte sie inzwischen gut genug, und dergleichen war bei ihr durchaus nicht ungewöhnlich.
In den vergangenen Jahren, vor allem aber in den letzten Monaten, hatte es immer wieder Konflikte zwischen den Magiern und den Hexen gegeben, die sich innerhalb des Ordens unterrepräsentiert und diskriminiert fühlten. Das war der Grund gewesen, weshalb sie sich zu einem eigenen Bund zusammengeschlossen hatten. Unter der Führung der streitbaren Shalana bildeten die Vingala schon jetzt beinahe einen eigenen Orden innerhalb des Ordens, und wenn diese Tendenzen sich fortsetzten, stand zu befürchten, dass es im ungünstigsten Fall irgendwann zu einer Abspaltung und einer damit verbundenen Schwächung kommen würde.
"Im Gegensatz zu anderen Plünderern oder Räuberbanden hinterlassen die Hornmänner niemals Überlebende", antwortete Eibon. "Sie töten jeden, den sie finden, gleichgültig, ob es sich um Kinder, Greise oder Frauen handelt."
"Ich protestiere energisch gegen diese Formulierung", ereiferte sich Shalana. Sie sprang auf und deutete anklagend auf den Elbenkönig. "Der Tod von Frauen wiegt kein bisschen schwerer oder weniger schwer als der von Männern, seien sie nun alt oder jung."
Irritiert blickte Eibon sie an. Er wusste nichts von den Hintergründen des zwischen Magiern und Hexen schwelenden Streits und konnte Shalanas Äußerung deshalb auch nicht entsprechend einordnen. Charalon hingegen war über ihr Verhalten sichtlich wütend und bewahrte nur noch mit Mühe die Beherrschung. Auch Maziroc war nicht gerade glücklich darüber, dass Shalana ausgerechnet diesen Moment dazu nutzte, die Standpunkte der Vingala zu propagieren, ganz egal, wie richtig oder falsch diese sein mochten. Anderseits jedoch konnte er sie verstehen.
Es gab beträchtlich weniger Hexen als Magier, und zudem waren ihre magischen Fähigkeiten meist erheblich schwächer, beschränkten sich hauptsächlich auf die Heilkunst. Aus diesem Grund hatten sie innerhalb des Ordens lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Erst in den vergangenen Jahren hatten sie unter der Führung Shalanas begonnen, aktiver für mehr Rechte und eine größere Beteiligung an allen Entscheidungsprozessen zu kämpfen. Allerdings schossen sie nach Mazirocs Meinung dabei oftmals über das Ziel hinaus, und er hatte beträchtliche Zweifel daran, ob sie den richtigen Weg einschlugen. Anerkennung, Einfluss und Bedeutung erhielt man nicht aufgrund von Forderungen geschenkt, sondern man erwarb sie sich durch Weisheit, durch entschlossenes und umsichtiges Handeln, wenn es darauf ankam, und indem man bereit war, Eigeninitiative zu entwickeln