Allerdings bildeten sie nicht die einzige Gefahr, vor der er sich fürchtete. Cara hatte von Ungeheuern gesprochen, die ihr Dorf angegriffen hätten, und obwohl es sich bei den Flugwesen um furchteinflößende Bestien handelte, passte ihr Aussehen nicht zu der sonstigen Beschreibung des Mädchens. Offenbar handelte es sich um eine größere Zahl verschiedenartiger dämonischer Kreaturen, die geradewegs aus einem Höllenpfuhl hervorgekrochen zu sein schienen, der sich unvermutet geöffnet hatte.
Hinzu kam noch etwas ganz anderes. Bei den Wesen, die er gesehen hatte, handelte es sich offenbar um Tiere ohne nennenswerte Intelligenz. Als solche aber wären sie kaum in der Lage, Feuer zu entzünden und alle überfallenen Höfe und Dörfer systematisch niederzubrennen. Sie wären auch nicht in der Lage, taktisch bedacht eine Nachhut zurückzulassen, die nach eventuellen Überlebenden oder Spurensuchern Ausschau hielt. All das deutete darauf hin, dass hinter den Bestien noch andere standen, die sie lenkten, was die Gefahr noch um ein Vielfaches vergrößerte.
Selons Lauf ging immer mehr in ein erschöpftes Taumeln über, und immer häufiger musste er sich an Bäumen abstützen und ein paar Sekunden lang rasten, bis er endlich sein Pferd erreichte. So gut es ging, rieb er sich den Rücken mit einer Heilsalbe ein und wickelte einen dicken Verband um seinen gesamten Oberkörper. Er hoffte, dass diese Maßnahmen noch nicht zu spät kamen, denn nun spürte er deutlich, wie viel Blut er bereits verloren hatte. Er fühlte sich schwach und erschöpft, war am Ende seiner Kräfte angelangt. Immer wieder wurde ihm schwindelig, auch als er bereits im Sattel saß, sodass er ein paarmal fast wieder vom Pferd gefallen wäre.
Die nächstgelegene Stadt war Brelonia, mehr als einen halben Tagesritt im Nordwesten. Dort würde man sich um ihn kümmern, und er würde fachkundige Hilfe von einem Heiler bekommen.
Vor allem aber musste er die Menschen dort warnen. Nicht nur sein eigenes Leben hing davon ab.
Er musste es bis Brelonia schaffen.
Er musste.
Schatten am Horizont
Der Sommer war erst wenige Wochen alt, und der Tag, der sich nun allmählich seinem Ende entgegenneigte, war der bislang schönste und wärmste dieses Jahres gewesen, das als eines der schrecklichsten und blutigsten in die Geschichtsschreibung Arcanas eingehen sollte.
So wenig Maziroc, der Magier, jedoch bereits von den finsteren Schatten ahnte, die sich am Horizont zusammenballten, so wenig nahm er von der Schönheit des Tages wahr. Vorhänge an den Fenstern sperrten bereits seit den frühen Morgenstunden das Sonnenlicht aus, und die Wände waren zu dick, als dass die Wärme bereits bis in sein Zimmer in einem der schwarzen Basalttürme der Ordensburg Cavillon vorgedrungen wäre.
Lediglich dämmeriges Zwielicht erfüllte den Raum; ein geisterhafter bläulicher Schein, der von zwei Gegenständen auf einem Tisch in der Mitte des Zimmers ausging: Einem schlichten Goldring und einem Medaillon, in dessen Oberfläche zahlreiche fremdartige Symbole eingraviert waren. In tiefe Trance versunken fixierte der Magier bereits seit Stunden die beiden Skiils, versuchte, seinen Geist in Einklang mit ihnen zu bringen und sie so an sich anzupassen. Skiils waren Artefakte, die einem magisch genügend starken Träger eine bestimmte Zauberkraft verliehen. Um sie nutzen zu können, musste man jedoch eine geistige Verbindung mit ihnen eingehen, eine Art Symbiose. Es war bereits eine schwierige und aufwendige Prozedur, ein einzelnes Skiil auf sich abzustimmen. Mit zweien zugleich hatte Maziroc es noch nie versucht, denn es galt als unmöglich, doch er betrachtete es schon seit Langem als eine Herausforderung, die er nun fast gemeistert hatte. Obwohl aus leblosen Materialien bestehend, waren die Skiils fast wie störrische kleine Tiere, die sich nur widerwillig einem Träger unterwarfen, doch viel fehlte nun nicht mehr, um ihren Widerstand zu brechen.
Mit einer letzten geistigen Anstrengung drang Maziroc bis zu ihrem Kern vor und stellte die symbiotische Verbindung her. Im gleichen Moment spürte er, wie magische Energie wie ein warmer Strom, der ihn umspülte, zwischen ihm und den beiden Skiils hin und her zu fließen begann. Vom Gefühl des Triumphes erfüllt, dass er das vermeintlich Unmögliche geschafft hatte, erwachte er aus seiner Trance und schlug die Augen auf. Trotz der stundenlangen Konzentration und Anspannung fühlte er sich nicht erschöpft, sondern dank des errungenen Erfolges gestärkt und voller Tatendrang.
Das Leuchten der beiden Skiils begann zu verblassen, und Dunkelheit breitete sich im Raum aus. Maziroc trat an eines der Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Geblendet musste er für ein paar Sekunden die Augen schließen, als grelles Sonnenlicht hereinströmte. Gleich darauf hämmerte jemand lautstark mit der Faust gegen die Tür.
"Was ist denn?", fragte er barsch. Er hätte sich gerne noch eine Weile im Glanz seines Erfolgs gesonnt und war entsprechend ungehalten über die Störung. Seine Reaktion wäre mit Sicherheit noch wesentlich harscher ausgefallen, wenn er durch das Klopfen zuvor aus seiner Konzentration gerissen und der Erfolg seiner Bemühungen zunichte gemacht worden wäre.
Die Tür wurde aufgerissen, und Brak, einer der jungen Dienst- und Botenjungen in Cavillon, kam hereingestürmt. Vor Aufregung war sein Gesicht gerötet. "Elben, Herr!", stieß er hervor. "Man hat Elben gesehen! Und sie sind auf dem Weg hierher!"
"Und?", murmelte Maziroc geistesabwesend.
"Aber Herr, habt Ihr denn nicht gehört? Es handelt sich um Elben!"
Maziroc seufzte. Er durfte nicht vergessen, wie jung Brak noch war. Für ihn selbst waren Elben nichts Ungewöhnliches; seine ausgedehnten Reisen hatten ihn sogar schon mehrfach bis nach Ai'Lith geführt, der Hohen Festung der Elben, und - obgleich selten - kam es immer wieder mal vor, dass Späher der Elben Cavillon einen Besuch abstatteten. Für jemanden wie Brak, der vermutlich noch nie in seinem Leben Angehörige des Alten Volkes gesehen hatte, mochte ihre Ankunft hier jedoch ein ungeheuer aufregendes Erlebnis sein. In weiten Kreisen der Bevölkerung galten Elben als fast übernatürliche, mystische Wesen.
"Doch, ich habe es gehört", antwortete er. "Aber ich fürchte, du wirst bitter enttäuscht werden, wenn du allzu hohe Erwartungen hegst. Die Elben sind keine göttergleichen Wesen, so wenig wie die Zwerge oder wir Magier, obwohl man es auch von uns gelegentlich denkt. Sie sind einfach nur ein sehr altes und weises Volk."
Das war gewaltig untertrieben. Die Elben waren nicht einfach nur alt und weise, sie waren das mit Abstand älteste bekannte Volk. Schon lange, bevor es sie ersten Zwerge oder gar Menschen gegeben hatte, hatten bereits die Elben auf Arcana gelebt. Im Laufe ihrer langen Existenz hatten sie einen schier unglaublichen Reichtum an Wissen gesammelt, den sie nur äußerst selten und widerwillig mit anderen teilten. Gerade deshalb galten sie nicht nur als eines der weisesten, sondern auch als eines der geheimnisvollsten Völker. Davon jedoch erwähnte Maziroc nichts, um dem Mythos nicht noch neue Nahrung zu verschaffen.
"Wie Ihr meint, Herr", murmelte Brak, doch es klang nicht sehr überzeugend, und das Feuer der Begeisterung in seinen Augen brannte kein bisschen weniger hell. "Auf jeden Fall hat mich Charalon zu Euch geschickt. Er möchte, dass Ihr beim Empfang der Elben dabei seid."
Maziroc runzelte die Stirn. Eine solche Bitte vom Oberhaupt des Magierordens war ziemlich ungewöhnlich.