Sie erreichten den Kuppelbau und traten ein. Kari musste einen ziemlich hohen Rang bekleiden, denn ohne dass sie von einer der vielen Wachen auch nur ein einziges Mal aufgehalten wurden, führte sie ihn direkt bis in den Thronsaal. Sie selbst blieb neben den beiden Wachen an der Tür stehen, während Maziroc auf den großen, halbkreisförmig nach außen gewölbten Marmortisch zutrat, hinter dem die Zwergenkönige saßen.
Anders als die meisten anderen Völker, die sich mit einem einzigen Herrscher begnügten, besaßen die Zwerge gleich fünf Könige, die die fünf wichtigsten Berufsgruppen des Zwergenvolkes repräsentierten. So gab es den religiösen Stand, die Künstler, die Jäger und Beerensammler, die die Versorgung mit Nahrungsmittel sicherten, die Minenarbeiter, die Erze und kostbare Edelsteine aus dem Ashran abbauten, und natürlich die Krieger. Jede dieser Bevölkerungsgruppen besaß einen eigenen König, der sich speziell um ihre Interessen kümmerte, und bei Entscheidungen, die das gesamte Volk betrafen, mussten sie sich untereinander einigen. Ein Herrschaftssystem, das sicherlich noch nicht perfekt war, das Maziroc jedoch für wesentlich fortschrittlicher und effektiver hielt, als die Herrschaft eines einzelnen Königs oder gar Tyrannen, dessen Macht zudem meist auf seiner Stärke beruhte, weshalb seine Armee meist einen übergroßen Einfluss besaß.
"Seid gegrüßt, Maziroc von Cavillon", richtete Borrus, der schon fast greisenhafte König der Krieger, das Wort an ihn. Er saß in der Mitte des lang gezogenen Tisches. "Wir haben gehört, dass Ihr äußerst wichtige Nachrichten bringt, deshalb haben wir Euch entgegen allen protokollarischen Gepflogenheiten diese überhastete Audienz gewährt."
"So ist es, und ich danke Euch dafür, dass ich so schnell mit Euch sprechen kann", entgegnete Maziroc und verbeugte sich. "Ich überbringe Euch die Grüße von Charalon, dem Oberhaupt des Magierordens, und zugleich auch seine Bitte um Hilfe."
Neugier blitzte in Borrus' in ein Geflecht tiefer Falten eingebetteten Augen auf. "Aufgrund der langjährigen Freundschaft zwischen dem Volk der Zwerge und dem Orden der Magier, werden wir dieser Bitte gerne nachkommen, sofern es uns möglich ist", sagte er. "Allerdings kann ich mir nur schwer vorstellen, bei was Charalon unsere Hilfe benötigen könnte."
"Genau genommen geht es nicht direkt um Charalon oder unseren Orden", stellte Maziroc richtig. "Alle bekannten Völker benötigen diese Hilfe, und nicht nur die Eure, sondern auch die aller anderen, die in der Lage sind, Krieger für ein Heer zu stellen. Es ist eine Gefahr entstanden, die ganz Arcana bedroht, und die wir nur abwenden können, wenn alle freiheitsliebenden Völker sich zu einem Bündnis zusammenschließen und ihr mit vereinter Macht entgegentreten."
Betroffenes Schweigen folgte seinen Worten.
"Das hört sich nach sehr schlechten Nachrichten an, die Ihr überbringt", sagte Farin, die Königin der Künste, schließlich. Sie war die jüngste im Rat der Könige, und neben Shira, der religiösen Führerin, die einzige Frau. Dunkles Haar fiel ihr in Locken bis weit über die Schultern und rahmte ein etwas pausbäckiges Gesicht ein. "Bitte berichtet uns mehr über diese Gefahr, die unsere ganze Welt bedrohen soll."
Maziroc begann zu erzählen. Er berichtete von den überfallenen und niedergebrannten Höfen und Dörfern, den verschwundenen Elbenspähern und den übrigen bedrohlichen Entdeckungen, von Eibons Besuch in Cavillon und dem Aufbruch der großen Expedition. Als er zu den Ereignissen auf dem Gehöft kam, überlegte er kurz, ob er das Zusammentreffen mit Kenran'Del erwähnen sollte, verzichtete dann aber darauf. Er wusste nicht, ob die eher abgeschieden lebenden Zwerge die Sagengestalt kannten. Von ihr zu sprechen, hätte nur eine Vielzahl zusätzlicher Erklärungen nötig gemacht, und dennoch wäre seine Schilderung dadurch höchstens weniger glaubhaft geworden.
"Die Damonen, mit denen wir es zu tun hatten, waren nur eine kleine Vorhut ohne richtige Führung", berichtete er stattdessen nur. "Außerdem konnten wir sie täuschen und überraschen. Aber Berichten zufolge, die wir für völlig glaubwürdig halten, handelt es sich um Hunderttausende dieser Ungeheuer, wenn nicht Millionen, und es werden mit jedem verstreichenden Tag mehr."
"Aber gegen einen so mächtigen und zahlenmäßig so überlegenen Feind haben wir selbst vereint keine Chance", entfuhr es Farin.
"Das wird sich zeigen", widersprach Maziroc. "Die Elben haben sich bereits bereit erklärt, sich einem Bündnis anzuschließen, gleiches gilt für uns Magier. Nun hoffe ich, dass sich die Zwerge ebenso entscheiden. Allein diese drei Völker besäßen die Stärke, jedem Angreifer zumindest erbitterten Widerstand entgegenzusetzen, und wir werden nicht allein sein. Ich bin überzeugt, dass der Kaiser von Larquina und viele der unabhängigen Städte Truppen entsenden werden. Mit Sicherheit wurden bereits Boten nach Aslan und Caarn entsandt, die auch dort um Unterstützung werben sollen. Bei einer solchen Streitmacht denke ich, dass wir durchaus eine Chance haben."
"Und diese ... Damonen, wie Ihr sie nennt, sollen durch ein Tor zwischen den Welten nach Arcana gelangt sein?", hakte Shira nach. Ihr Gesicht war schmal, fast hager, und im Gegensatz zu jeder bei den Zwergen herrschenden Mode trug sie ihr blondes Haar sehr kurz. Unverhohlene Skepsis schwang in ihren Worten mit, doch Maziroc konnte verstehen, dass sie als religiöses Oberhaupt gerade an der Herkunft der Damonen besonders interessiert war.
"Eine Weltenbresche", bestätigte er. "Ich weiß selbst nur wenig darüber und kann Euch deshalb nicht mehr darüber berichten, wie und warum sie entstanden ist. Möglicherweise nur ein Naturphänomen. Fest steht jedenfalls, dass es sie gibt und das Heer der Damonen auf diesem Weg mit jeder weiteren Stunde zusätzlichen Nachschub erhält."
"Und was genau erwartet Ihr und Charalon nun von uns?", ergriff Borrus wieder das Wort. "Wie sehen die Pläne im Einzelnen aus, mit denen dieser Bedrohung begegnet werden soll?"
"Über Einzelheiten bin auch ich noch nicht informiert", gab Maziroc zu. "Die Reise hierher hat lange gedauert, und ich bin unmittelbar nach unserer Flucht von dem Hof aufgebrochen. Das Allerwichtigste war es zunächst, möglichst viele Völker zu warnen und sie um Unterstützung zu bitten. Erst wenn wir wissen, wer sich uns anschließt und wie stark unsere Verteidigung sein wird, kann eine Strategie festgelegt werden, zumal sicher alle Beteiligten daran mitarbeiten wollen. Nachdem wir nun von ihrer Existenz wissen, kann es jedoch nicht mehr lange dauern, bis die Damonen ihre Eroberungszüge ausdehnen, und bis dahin müssen wir ein schlagkräftiges Heer aufgestellt haben, um sie aufzuhalten. Wenn es uns gelingt, sie zu schlagen, können wir anschließend versuchen, die Weltenbresche zu zerstören oder sonst wie zu schließen, um diese Bedrohung vollends zu beseitigen."
Einige Sekunden herrschte Schweigen, dann beugten sich die Könige einander zu und redeten mehrere Minuten lang leise miteinander, ohne dass Maziroc ein Wort verstand.
"Bislang haben die Elben offenbar ziemlich viel Initiative in dieser Angelegenheit gezeigt", ergriff Borrus schließlich wieder das Wort. "Wir wüssten gerne, welche Rolle sie im Kampf gegen diese Damonen spielen werden. Ihr wisst, welche Spannungen zwischen ihrem und unserem Volk herrschen. Auf keinen Fall werden wir uns als eines von vielen Völkern einem Heer anschließen, das von ihnen dominiert oder gar befehligt wird."
Maziroc seufzte. Genau diese Reaktion hatte er befürchtet. Selbst im Angesicht einer so furchtbaren Gefahr wie dieser drohten unsinnige uralte Ressentiments und Streitereien den Aufbau einer starken, einigen Abwehr zu verzögern oder gar zu vereiteln. Aber da er diese Entwicklung vorausgesehen hatte, hatte er immerhin Gelegenheit gehabt, sich darauf vorzubereiten und sich Argumente zurechtzulegen.
Für einen kurzen Moment fühlte Maziroc Bitterkeit darüber in sich aufsteigen, dass Charalon ausgerechnet ihn für diese Mission ausgewählt hatte. Das mächtige Volk der Zwerge würde ein extrem wichtiger Rückhalt in einem Bündnis sein, und ob es sich diesem anschloss, mochte nicht zuletzt von seinen nächsten Worten abhängen. Möglicherweise hing sogar die gesamte Zukunft Arcanas zu einem beträchtlichen Teil davon ab, was er hier und jetzt sagte. Er fühlte diese Verantwortung wie eine schwere Last, die seinen Puls beschleunigte und seine Gedanken zu lähmen drohten. All die Worte, all die sorgsam geschliffenen Formulierungen, die er sich auf dem Weg hierher