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Wenn die Voraussetzungen von Art. 33 EuGVVO nicht vorliegen, also insbesondere der Beklagte des Zweitprozesses seinen Sitz nicht in einem Mitgliedstaat hat, wird für eine deutsche Zweitklage § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO analog angewandt.388 Grundsätzlich ist demnach eine anderweitige ausländische Rechtshängigkeit zu berücksichtigen, um einander widersprechende, aber vollstreckbare Urteile zu verhindern.389 Anders liegt es aber im Fall einer früheren ausländischen (negativen) Feststellungsklage. Im Ergebnis hindert diese ausländische negative Feststellungsklage eine nachträglich im Inland erhobene Leistungsklage nicht. Dies wird unterschiedlich begründet. Die herrschende Literatur verweist darauf, dass bei negativer Feststellungsklage und Leistungsklage unterschiedliche Streitgegenstände vorliegen.390 Nach anderer Auffassung verstößt die Blockade der deutschen Leistungsklage gegen den Justizgewährungsanspruch des Gläubigers, so dass dieser sich nicht bei dem ausländischen Gericht verteidigen muss, sondern vor einem deutschen Gericht klagen kann.391
c) Deutscher Torpedo?
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Fraglich ist schließlich, ob sich ein potenziell Beklagter in einem Drittstaat (es ging um Israel) mit einer Torpedoklage vor einem deutschen Gericht die hiesige Gerichtsbarkeit sichern kann („Deutscher Torpedo“). Das LG München vertritt die Ansicht, dass das Feststellungsinteresse entfällt, wenn der Beklagte der Feststellungsklage seinerseits wegen desselben Streitgegenstandes in einem Drittstaat Leistungsklage erhebt und diese Leistungsklage nicht mehr einseitig zurückgenommen werden kann.392 Voraussetzung sei jedoch, dass die ausländische Entscheidung in Deutschland anzuerkennen wäre.393 In diesem Fall sei dem Kläger der negativen Feststellungsklage das Interesse an einer Klärung der Rechtslage in Deutschland abzusprechen.394 Ob diese Sichtweise so durch andere Gerichte, insbesondere Obergerichte, geteilt werden wird, ist offen.
11 Siehe im Detail: Patzina, in: MüKo-ZPO, § 12 Rn. 57ff. 12 BGH, 17.3.1981, VI ZR 286/78, BGHZ 80, 199, NJW 1981, 1606ff. 13 BGH, 5.5.1966, II ZR 174/64, BGHZ 45, 237, 242, NJW 1966, 1511; BGH, 7.11.1974, II ZR 94/74, BGHZ 63, 228, 232, NJW 1975, 218. 14 BGH, 28.11.2002, III ZR 102/02, BGHZ 153, 82, 84ff., NJW 2003, 426; BGH, 27.5.2003, IX ZR 203/02, NJW 2003, 2916. 15 Siehe dazu Kapitel F Rn. 38ff. 16 Dazu Wurmnest, NZKart 2017, 2ff. 17 Brand, IPRax 2016, 314. 18 VO 1215/2012, Abl. 2012 L 351/1 – auch Brüssel Ia-VO. 19 Entsprechendes gilt für das sog. Übereinkommen von Lugano II (ABl. L 339/3 v. 21.12.2007) zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie Schweiz, Norwegen und Island. Das Abkommen enthält der EuGVVO weitgehend vergleichbare Regelungen. Die folgenden Ausführungen zur EuGVVO lassen sich daher weitgehend auf das Lugano II-Abkommen übertragen. 20 EuGH, 28.3.2019, Rs. C-637/17, ECLI:EU:C:2019:263 Rn. 39ff. – Cogeco; EuGH, 13.7.2006, Rs. C-295/04 bis C-298/04, ECLI:EU:C:2006:461 Rn. 60ff. – Manfredi; EuGH, 20.9.2001, Rs. C-453/99, ECLI:EU:C:2001:465 Tz. 29 – Courage. Zu den genannten Grundsätzen bereits EuGH, 10.7.1997, Rs. C-261/95, ECLI:EU:C:1997:351 Tz. 27 – Palmisani. 21 EuGH, 29.7.2019, Rs. C-451/18, ECLI:EU:C:2019:635 Rn. 24 – Tibor-Trans; EuGH, 28.7.2016, Rs. C-102/15, ECLI:EU:C:2016:607 Rn. 34 m.w.N. – Siemens Aktiengesellschaft Österreich; BayObLG, 30.4.2019, 1 AR 30/19, juris Rn. 12; OLG Düsseldorf, 3.4.2018, VI-W (Kart) 2/18, juris Rn. 6. 22 Garzanti/Vanhulst/Oeyen, EuZW 2012, 691f. 23 EuGH, 28.7.2016, Rs. C-102/15, ECLI:EU:C:2016:607 Rn. 34 – Siemens Aktiengesellschaft Österreich. 24 Vgl. EuGH, 28.7.2016, Rs. C-102/15, ECLI:EU:C:2016:607 Rn. 24, 42f. – Siemens Aktiengesellschaft Österreich; vgl. hierzu Anm. Wurmnest, EuZW 2016, 784, 785. 25 So OLG Hamm, 1.12.2016, 32 SA 43/16, NZKart 2017, 79 Rn. 12; Wolf, IPRax 2018, 475, 477. 26 Trotz vielfältiger Kritik und trotz Reformbestrebungen wurde an diesem Prinzip festgehalten, siehe: Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 4 EuGVVO Rn. 1. 27 EuGH, 17.3.2016, Rs. C-175/15, EU:C:2016:176 Rn. 20 – Taser International; BayObLG, 30.4.2019, 1 AR 30/19, juris Rn. 13. 28 Siehe Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 299/62 v. 16.11.2005. 29 Vgl. Weller, RIW 2015, 598. 30 Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 4 EuGVVO Rn. 2. 31 Vgl. BayObLG, 30.4.2019, 1 AR 30/19, juris Rn. 22. 32 Vgl. Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 4 EuGVVO Rn. 2. 33 Vgl. Ashton/Henry, Competition Damages Actions in the EU, S. 174. 34 LG München I, 7.2.2020, 37 O 18934/17, juris Rn. 103. 35 Vgl. EuGH, 7.3.1995, Rs. C-68/93, ECLI:EU:C:1995:61 Rn. 25 – Shevill. 36 Schultzky, in: Zöller, ZPO, § 12 Rn. 2 m.w.N. aus der Rspr. 37 EuGH, 19.2.2002, Rs. C-256/00, ECLI:EU:C:2002:99 Rn. 52 – Besix; EuGH, 13.7.2000, Rs. C-412/98, ECLI:EU:C:2000:399 Rn. 35 – Group Josi; EuGH, 17.6.1992, Rs. C-26/91, ECLI:EU:C:1992:268 Rn. 14 – Handte. 38 Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 63 EuGVVO Rn. 1. 39 Hierzu unten Kapitel M Rn. 70ff., 172ff. 40 Dörner, in: Saenger, ZPO, Art. 4 EuGVVO Rn. 3; Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 4 EuGVVO Rn. 5; Lurger, in: von Hein/Gisela Rühl (Hrsg.), Kohärenz im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht der Europäischen Union, 2016, 202. 41 Wagner, in: Stein/Jonas, EuGVVO, Art. 6 Rn. 16. 42 EuGH, 15.3.2012, Rs. C-292/10, ECLI:EU:C:2012:142 Rn. 40 – G./.de Visser; vgl. EuGH, 17.11.2011, Rs. C-327/10, ECLI:EU:C:2011:745 Rn. 42 – Hypoteční banka. 43 Dörner, in: Saenger, ZPO, Art. 4 EuGVVO Rn. 4; Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 4 EuGVVO Rn. 6; Jayme/Kohler, IPRax 2001, 501, 510; siehe grundlegend: Löser, Zuständigkeitsbestimmender Zeitpunkt und perpetuatio fori im internationalen Zivilprozess, S. 35ff.; Gampp, Perpetuatio fori internationalis im Zivilprozeß und im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, S. 125ff. 44 BGH, 1.3.2011, XI ZR 48/10, NJW 2011, 2515, 2516ff.; Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, Art. 4 EuGVVO Rn. 6. 45