a) Europäische Torpedoklagen
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Die Erhebung einer Torpedoklage in einem Mitgliedstaat durch einen potenziellen Beklagten kann dazu führen, dass die vor dem Gericht eines anderen Mitgliedstaates zeitlich später eingereichte Leistungsklage unzulässig ist.
aa) Wirkungsweise
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Zunächst muss die Torpedoklage wirksam erhoben werden. Das setzt insbesondere das Bestehen eines Feststellungsinteresses voraus. In Deutschland ist hierfür etwa erforderlich, dass sich der Beklagte der negativen Feststellungsklage des Bestehens eines Anspruchs berühmt.368
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Im Geltungsbereich der EuGVVO folgt die Unzulässigkeit der später eingereichten positiven Leistungsklage aus dem Prioritätsprinzips des Art. 29 EuGVVO. Hiernach muss sich ein mit demselben Anspruch später angerufenes Gericht zugunsten des zuerst angerufenen für unzuständig erklären, wenn bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht wurden (Art. 29 Abs. 3 EuGVVO). Der Begriff „desselben Anspruchs“ entspricht nicht dem deutschen Streitgegenstandsbegriffs, sondern ist im Rahmen der EuGVVO autonom und weit auszulegen, um einander widersprechende Urteile in der Europäischen Union zu vermeiden.369 Maßgeblich ist demnach, ob der Kernpunkt beider Streitigkeiten derselbe ist. Dies ist im Verhältnis zwischen negativer Feststellungsklage und entsprechender Leistungsklage der Fall.370
bb) Missbrauchskontrolle
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Potenziell Geschädigte wenden gegen Torpedoklagen eines möglichen Beklagten in einem anderen Mitgliedstaat regelmäßig ein, dass die Torpedoklage zu missbräuchlichen Zwecken erhoben wurde, um dem Kläger seine Anspruchsdurchsetzung zu erschweren. Der Torpedokläger wird hiergegen einwenden, dass er ein Recht darauf hat, sich eine bekannte Judikatur zu sichern. Die europäische und nationale Rechtsprechung ist bislang noch zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen, wann eine missbräuchliche Nutzung von Torpedoklagen vorliegt.
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Der EuGH hat sich lange gegen Ausnahmen von dem Prioritätsprinzip des Art. 29 EuGVVO gesperrt, denn grundsätzlich ist es dem zweitangerufenen Gericht verwehrt, die Zuständigkeit des erstangerufenen Gerichts zu prüfen.371 Die EuGVVO beruht maßgeblich auf dem Vertrauen, das die Vertragsstaaten gegenseitig ihren Rechtssystemen und Rechtspflegeorganen entgegenbringen.372 Dies gilt auch dann, wenn das zuerst angerufene Gericht einem Mitgliedstaat angehört, vor dessen Gerichten Verfahren unvertretbar lange dauern oder die Klage bösgläubig mit Blockadeabsicht vor einem unzuständigen Gericht erhoben wurde.373 Erstmals in der Rechtssache Weber374 hat der EuGH entschieden, dass das Zweitgericht vor der Aussetzung des Verfahrens nach Maßgabe des Art. 29 EuGVVO zu prüfen hat, ob nicht seine ausschließliche Zuständigkeit besteht, weil dann ein Urteil des Erstgerichts gem. Art. 35 Abs. 1 a.F. EuGVVO wegen Verletzung der ausschließlichen Zuständigkeit nicht anerkannt würde. Ausschließliche Zuständigkeiten finden sich im Kartellrecht aber praktisch nicht.
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Rechtsprechung des EuGH zu Torpedoklagen in Kartellschadensersatzverfahren existiert bislang nicht. Zwar hat der Generalanwalt Jääskinen zum Wasserstoffperoxidkartell die Ansicht vertreten, dass eine negative Feststellungsklage nach einer kartellbehördlichen Entscheidung über das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV aufgrund der Bindungswirkung (vgl. § 33h Abs. 6 GWB) ausgeschlossen sei.375 Diese Ansicht hat dennoch viel Überzeugungskraft für sich. Der EuGH hat dieses Argument in seinem Urteil unkommentiert gelassen. Das könnte einerseits dafür sprechen, dass der EuGH keinen Korrekturbedarf sieht. Andererseits war die Frage aber auch nicht streitentscheidend, so dass das Schweigen keine weitere Bedeutung haben könnte.
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Der BGH wendet Art. 29 EuGVVO auch auf negative Feststellungsklagen bisweilen strikt an.376 Und anders als bei rein nationalen Sachverhalten lässt die später erhobene Leistungsklage das Feststellungsinteresse auch nicht entfallen.377 In der Literatur werden Torpedoklagen kontrovers diskutiert. Unterstützer der höchstrichterlichen Rechtsprechung bringen vor, dass dem Kläger die Möglichkeit der Leistungswiderklage am Gericht der negativen Feststellungsklage nach Art. 8 Nr. 3 EuGVVO verbleibe und er damit nicht schutzlos gestellt sei.378 Andererseits wird vorgebracht, die ausnahmslose Anwendung des Prioritätsprinzips in Art. 29 EuGVVO widerspreche dem unionsrechtlichen und auch im deutschen Recht anerkannten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes, denn es löse einen unerwünschten „Wettlauf um die Zuständigkeiten“ aus.379 Diesem Problem solle nach Vertretern dieser Ansicht mit einer offenen Missbrauchskontrolle begegnet werden.380 Das LG Hamburg hat im Jahr 2015 eine in Italien erhobene Torpedoklage als rechtsmissbräuchlich und deshalb gegenüber der zeitlich nachrangig in Deutschland erhobenen umgekehrten Leistungsklage unbeachtlich angesehen.381 Das Verfahren betraf die Verletzung von Geschmacksmustern. Dies überraschte, denn der BGH erteilte einer Missbrauchskontrolle des zweitangerufenen Gerichts im Jahr 2014 eine klare Absage, kam aber dennoch zur Nichtanwendung von Art. 29 EuGVVO, weil eine ausschließliche Zuständigkeit des Zweitgerichts bestand.382
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Das Schweizerische Bundesgericht zeigte sich jüngst Torpedoklagen im eigenen Land sehr aufgeschlossen. In Abkehr zu seiner bisherigen Rechtsprechung hat das Gericht einer Klägerin, die einer gegen sie gerichteten Marktmissbrauchsklage in England zuvorkommen wollte, ein Feststellungsinteresse für eine negative Feststellungsklage in Bern zugesprochen. Das Interesse, sich für ein bevorstehendes Gerichtsverfahren einen genehmen Gerichtsstand zu sichern („forum running“), begründe ein ausreichendes schutzwürdiges Interesse (unterschiedliche Verfahrensrechte, unterschiedliche Verfahrenssprache, Dauer und Kosten der Verfahren). Da die schweizerische Justiz nicht für überlange Verfahren bekannt ist, sei – so das Bundesgericht – nicht zu fürchten, dass die Zulässigkeit solcher Klagen als Folge für die Erhebung von Torpedo-Klagen missbraucht werde.383
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Eine teilweise Entschärfung der Torpedoproblematik bietet die Möglichkeit, einstweilige Maßnahmen nach Art. 35 EuGVVO auch dann vor einem Gericht eines Mitgliedstaates zu beantragen, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache das Gericht eines anderen Mitgliedstaates zuständig ist.384 Grund hierfür ist, dass das Verfahren in der Hauptsache und das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht „denselben Anspruch“ i.S.v. Art. 29 EuGVVO betreffen.385 Hierzu müssen jedoch die Voraussetzungen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens erfüllt sein und der Verfügungskläger muss das (verschuldensunabhängige) Schadensersatzrisiko (in Deutschland § 945 ZPO) im Blick behalten.386
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In der Rechtspraxis kann sich in Fällen drohender Torpedoklagen anbieten, die vorgerichtliche Ansprache des Anspruchsgegners zunächst anonym über Rechtsanwälte zu betreiben und in namentliche Verhandlungen nur einzusteigen, wenn eine vertragliche Verpflichtung, keine Torpedoklage zu erheben, abgegeben wurde.
b) Torpedoklage in Drittstaaten
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Die Wirkung einer in einem Drittstaat zeitlich früher erhobenen negativen Feststellungsklage auf eine spätere in einem Mitgliedstaat erhobene Leistungsklage beurteilt sich nach Art. 33