Nackt auf der Insel. Peregrinus Walker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peregrinus Walker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742793973
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gelang es ihr hin und wieder aus der Bewachung ihres Elternhauses auszubüxen. Fahrt mit der Tram in die Innenstadt. Gang ins Kino. Mann kennen gelernt. Mit ihm nach Hause gegangen ins Bett. Danach schnell zur Tram. Zurück in die Vorstadt. Ich weiß es nicht. Ich glaube es kaum. Kürzlich habe ich gelesen, dass in den Kriegsjahren, als die Männer knapp waren, viele Frauen mit einer Freundin schliefen, vorübergehend eine lesbische Beziehung eingingen, weil sie es anders nicht mehr aushielten. Mag sein, dass das stimmt. Nach dem Modell Aymée und Jaguar? Aber meine Mutter? Ich kann mich nicht erinnern, dass sie in den Nachkriegsjahren eine Freundin hatte. Hätte sie die Beziehung nach dem Krieg nicht weitergeführt, da sie ohnehin keinen Mann hatte? Fragen über Fragen und keine Antworten. War sie wirklich die ganzen Jahre über enthaltsam? Oder hatte sie sich dem Fingerspiel hingegeben? Warum eigentlich nicht? Sie war nicht auf die gleiche stupide Weise katholisch wie ihre Eltern, hielt kritische Distanz zur Kirche. Wenn sie es getan hat, hat sie es bestimmt keinem der neugierig-lüsternen Geistlichen preisgegeben, die ihre Beichtkinder aushorchen und sich an deren sexuellen Geständnissen aufgeilen. Nein, nein. Gebeichtet hat sie das bestimmt nicht. So gut kenne ich sie. Falls sie enthaltsam war, erklärt es sich sehr leicht, dass sie sich schon kurz nach dem Einmarsch der Amerikaner mit einem Besatzungssoldaten einließ. Mit einem Offizier der amerikanischen Armee. Groß, stolz, breitschultrig, gut aussehend, gebildet, wie sie mir erzählte und wovon ich mich sehr viel später selbst überzeugen konnte. Die Größe hab ich von ihm; wie er bin ich einsachtundachtzig. Er kam zur Mutter ins Haus; die Großeltern schwiegen dazu, vielleicht auch deshalb, weil er in diesen Mangelzeiten zu essen mitbrachte, Geschenke für die ganze Familie, Whiskey für den Großvater, den dieser auf einmal zu schätzen lernte. Es ging ihnen gut, solange er kam. Besser jedenfalls als den neidischen Nachbarn, die schon mal »Amihure« zwischen den Zähnen herausknirschten, wenn meine Mutter vorüberging. Was soll’s? Meine Mutter schwamm im Glück, so hat sie es mir erzählt, und ich habe es ihr nach all den kargen Jahren gegönnt und gönne es ihr heute noch, auch wenn sie schon lange nicht mehr lebt. Plötzlich musste er weg, er wurde zurückberufen in die USA, meine Mutter wusste nicht warum. Ihr Englisch war mehr schlecht als recht. Die Kommunikation zwischen beiden lief ohnehin auf einer anderen Ebene ab. Bei einem ihrer letzten Zusammentreffen muss es passiert sein. Meine Mutter wurde schwanger. Als der Amerikaner abreiste, wusste sie es noch nicht. Er schickte ihr von Bremerhaven, wo er auf einen Truppentransporter verschifft wurde, noch eine Karte. Ich habe sie im Nachlass meiner Mutter gefunden und bewahre sie noch heute auf. Jedenfalls war er weg, und meine Mutter war von ihm schwanger. Ihr Vater hat ihr eine Riesenszene gemacht. Die Vorwürfe, die sie sich anhören musste, hat sie ihm nie verziehen. Ihre Mutter hatte mehr Verständnis, unterstützte sie, machte ihr Mut. Von den Monaten der Schwangerschaft hat meine Mutter nie etwas erzählt, meine Geburt sei aber problemlos verlaufen. Irgendwann habe sie auch die Adresse ihres amerikanischen Liebhabers vom Standortkommando erfahren. Sie teilte ihm meine Existenz mit. Er schickte Geld und teilte ihr in kargen Worten mit, dass er in den USA bleiben müsse, er könne sich weder um sie noch um das Kind kümmern, würde aber regelmäßig zahlen. Meine Mutter war zunächst erbost, fügte sich dann aber in ihr Schicksal. Von Zeit zu Zeit kam ein Scheck mit einem größeren Betrag, von meiner Einschulung an erfolgten monatliche Überweisungen. In finanzieller Hinsicht hatte meine Mutter keinen Grund zur Klage. Sonst ließ der Ami, wie mein Großvater immer sagte, nichts von sich hören. Umso größer war das Erstaunen, als er zu meinem zehnten Geburtstag einen langen Brief schrieb. Er habe mittlerweile in den USA geheiratet, zwei Kinder gezeugt, die jetzt drei und fünf Jahre alt seien. Er würde seinen Ältesten gerne mal sehen. Meine Mutter solle mich doch in die USA reisen lassen; für eine sichere Überfahrt würde er sorgen. Selten habe ich meine Mutter so wütend gesehen. Macht ihr ein Kind, lässt Jahre nichts von sich hören, fragt nicht einmal nach, wie es ihr und dem Kind ergeht, und dann will er dieses Kind so einfach mir nichts dir nichts zu sich nehmen! Wer weiß, was meinem Kind passiert! Und dann in den USA! So fremd, kennt den Vater doch gar nicht, und was ist das für eine Frau, mit der er verheiratet ist? Wer weiß, wie die mit meinem Bub umgeht! Auf einmal gibt der mein Kind nicht mehr zurück! Und wie soll ich mich dann gegen die Vereinigten Staaten vom Amerika durchsetzen? Kommt nicht in die Tüte  Das hätte mir gerade noch gefehlt! Was meine Mutter ihm in ihrem schlechten Englisch zurück geschrieben hat, weiß ich nicht. Jedenfalls herrschte Funkstille. Das Geld kam aber weiterhin. Als ich später auf dem Gymnasium war und Englisch lernte, was mir gar nicht schwer fiel, von wegen väterliches Erbe und so, hab ich ihm zu Weihnachten immer geschrieben. Er wiederholte seinen Vorschlag ihn zu besuchen, aber meine Mutter lehnte jedes Mal kategorisch ab. Meine Schulzeit verlief übrigens unproblematisch, ich war ein mittelmäßiger Schüler, es gab keine Höhen und keine Tiefen. Meine Mutter war mit mir zufrieden. Seit sie in dem Laden, in dem sie seit ihrer Lehrzeit arbeitete, zur Substitutin aufgestiegen war, konnten wir uns mehr leisten. Gegen Ende der Fünfzigerjahre hatte sie sogar einen VW Käfer angeschafft, dank einer kräftigen Finanzspritze ihrer Eltern, die dafür auch schon mal mitgenommen werden wollten. Wie viele andere auch fuhren wir erstmals Anfang der Sechzigerjahre zum Urlaub nach Italien, dorthin wohin alle fuhren, an den Strand, über den man sich später als Teutonengrill lustig machte. Wir waren in Cesenatico, Riccione, Rimini, in unseren letzten gemeinsam verbrachten Ferien sogar in Milano Marittima. Immer in einem kleinen, sauberen Hotel mit Vollpension, wie das damals üblich war. Morgens pilgerten wir zum Strand, dann ging es zurück zum Mittagessen. Danach bestand meine Mutter auf Mittagsruhe im Zimmer. Um drei ging es wieder zum Strand. Nach sechs Uhr Rückmarsch, duschen, anziehen zum Abendessen um neunzehn Uhr dreißig. Tag für Tag. Unterbrochen nur von gelegentlichen Ausflügen nach Ravenna oder San Marino. Zweimal in der Zeit haben wir Tagesausflüge nach Venedig unternommen. Die Stadt hat mich sehr beeindruckt, obwohl ich damals von Casanova noch wenig bis gar nichts wusste. Meine Pubertät verlief einigermaßen glimpflich. Meine Mutter hatte wenig Ärger mit mir. Wahrscheinlich fehlte das väterliche Element, an dem ich mich reiben und aufschaukeln konnte. So blieb mir diese Zeit lediglich wegen der anhaltenden Gliederschmerzen auf Grund des rasanten Wachstums in Erinnerung, natürlich auch durch die üblichen Veränderungen, was die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale betraf. Beginnender Bartwuchs. Permanente Erektionen, nächtliche Pollutionen, Orgasmen im Turnunterricht beim Klettern an der Stange oder am Seil, die einem den Schwengel rieben. Ich bin von der Einschulung an immer der Größte in der Klasse gewesen. In der Pubertät verstärkte sich das. Ich schoss in die Höhe auf ein Meter achtundachtzig, überragte alle, sogar die Lehrer mussten zu mir aufschauen. Die Mädchen bewunderten mich wegen dieser stattlichen Körpergröße. Sonst war mit ihnen aber nicht viel los. Immerhin konnte man sie in der Tanzstunde anfassen, aber selbst mit der Schlussballpartnerin, in die ich mich verliebt hatte, kam ich über ein bisschen Knutschen und einige harmlose Küsse nicht hinaus. Damals glaubten noch viele Mädchen, vom Küssen könne man schwanger werden. Da war mit sexuellen Erfahrungen nicht viel drin. Es blieb eigentlich nur die Handarbeit, um die Spannungen abzubauen. Die Zeit war viel zu prüde. Zwar gab es schon Beate Uhse, die eine bedeutende Aufgabe auf dem Gebiet der Volksaufklärung leistete. Mit ihren Sexshops, getarnt als Institute für Ehehygiene, brachte sie Leben in die Betten. Nicht nur, dass sie Kondome in allen Variationen anbot, ihr Sortiment umfasste auch Sexspielzeug wie Vibratoren, Dildos in allen Formen, rollende Kugeln, die, in der Scheide getragen, lustvolle Gefühle hervorriefen, batteriebetriebene Kitzler für den Kitzler. Ich habe zwar noch keine Frau getroffen, die, wenn sie sich auszog, Vaginalkugeln getragen oder sich einen Kitzler umgeschnallt hatte. Mit den Kugeln da unten drin wär’s wohl etwas eng geworden, wenn ich dazu gestoßen wäre! Ich hab nur gesehen, wenn eine schon mal einen Tampon herausgezogen hat, weil sie ficken wollte, obwohl sie ihre Tage hatte. Aber das Angebot an solchen Lustmachern muss sich gelohnt haben. Es wurde offensichtlich ein riesiger Umsatz damit gemacht. Mit der Produktion von Vibratoren konnte man Millionär werden! Auch sonstige Stimulanzien, wie etwa erotische Bücher, waren gefragt. Plötzlich veränderte sich das Sexleben der Deutschen. Aber bis zu mir war diese Art der Aufklärung noch nicht vorgedrungen. Oswalt Kolle, Deine Frau, das unbekannte Wesen, die Bravo, die Hausfrauen- und Schulmädchenreporte, die so genannte sexuelle Revolution – das alles kam viel später. Meine Freunde und ich badeten oft in den Isarauen, schämten uns immer etwas vor einander, wenn wir die nassen Badehosen auszogen, um in unsere Kleider zu schlüpfen. So sehr war Nacktheit noch tabuisiert! Eines Tages entdeckte Ingo, mein Banknachbar, zwei Mädchen aus unserer Klasse, die sich hinter den Büschen versteckt hatten und uns beobachteten. So bald wir unsere Hosen anhatten, holten wir sie hervor,