Auch Ulla Sommer ging in ihr Zimmer, setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch und rief ihren Mann zu Hause an. Doch damit hatte sie kein Glück, es war niemand zu erreichen.
„Wilhelm liegt sicherlich schon längst im Bett, während ich hier noch mit einem Toten vorliebnehmen muss“, jammerte sie und zog sich langsam aus. Draußen war eine klare, mondhelle Nacht, die gar nicht zu diesem ganzen Hexenzauber in diesem altertümlichen Hotel passen wollte.
Dann löschte Ulla Sommer das Licht und schlief bis zum anderen Morgen durch.
Kapitel 3
Mit großem Schmerz wachte sie in der Klinik auf. Sie sah nur überall Schläuche und immer wieder Schläuche. Eigentlich konnte sie diese Schläuche nicht zuordnen. Die Tür öffnete sich und eine freundliche, ganz in weiß gekleidete Frau kam herein. Langsam kehrte ihr Bewusstsein wieder zurück. Aber sie wollte gar nicht aufwachen. Schlafen, das war das Beste was ihr geschehen konnte. Einfach einen Winterschlaf halten. Sie wusste gar nicht, wo sie sich befand, war sie in einer Klinik oder in der Reha? Sprechen konnte sie nicht. Ihre Augen bewegten sich ganz mechanisch. Sie wollte sprechen, aber ein Kloß in ihrem Hals ließ es nicht zu. Auch ihren Mund konnte sie nicht öffnen.
Sie dachte nur an das Messer in ihrer Brust. So langsam strich sie mit ihren Händen, die einfach ihren Armen mechanisch folgten an ihren Brüsten entlang. Sie fühlten sich ganz hart an, gar nicht weich wie sonst. Sie bemerkte nicht die straff gezogenen Verbände, die um ihre Brüste lagen.
Irgendwas stimmte nicht mit ihrem Kopf. Sie fühlte es deutlich. Sie hatte einen Kopfverband. Doch wie dieser zustande gekommen war, konnte sie auch nicht einordnen. Sie forschte in ihrem Gedächtnis nach. Aber da war nichts. Sie wusste nicht mal mehr ihren Namen. Wer war sie?
Sie erinnerte sich nur daran, dass sie plötzlich einen Stich und einen großen Schmerz verspürte und mehr wusste sie nicht mehr.
Sie erinnerte sich auch noch an einen bestialischen Gestank. Was war geschehen? Wo bin ich? Als sie ihre Augen wieder aufschlug, sah sie nur ein milchig-weißes Glas vor ihren Augen. Wo war der Himmel geblieben? Es gab keinen Himmel mehr. Es war nur alles milchig-weiß. Sie schloss wieder ihre Augen, dann wollte sie lieber einen Winterschlaf halten, als dieses milchig-weiße Zimmer zu sehen, das bei ihr Angstschweiß auslöste. War sie tatsächlich in einem Krankenhaus gelandet?
Sie wollte einfach nur weiterschlafen, ihre Augen schließen und nur nicht wieder in dieses milchig-weiße Zimmer schauen.
Sie hörte ein leises Klopfen an der Tür. Sie konnte jedoch keinen Laut von sich geben. Sie sah, wie sich die Tür öffnete und herein kam eine Person, die sie nur schemenhaft sehen konnte. Diese Person war nicht weiß gekleidet, sondern sie hatte leuchtendrote Blumen auf ihrer Bluse, das erkannte sie sofort. Sie sahen aus wie Lotosblüten oder wie Klatschmohn. Ja, Klatschmohn, den mochte sie als Kind sehr, und er wuchs auf den Feldern zwischen dem Weizen und den blauen Kornblumen. Das war schön anzusehen, dieser leuchtendrote Klatschmohn, der hellgelbe Weizen und das dunkle Blau der Kornblumen. Sie bemerkte nur noch, dass diese Frau mit den Lotosblüten auf der Bluse sie unentwegt anstarrte. Wer war das? Ihre Tochter?
Doch auch von dieser Person kam kein Laut über ihre Lippen. Sie spürte nur, wie diese Person ihr über das Gesicht strich. Sie spürte, dass die Person zusammenzuckte und sie sah auch die Tränen, die unaufhörlich über das Gesicht dieser Person liefen. Was war nur geschehen? Dann ging diese Person zur Tür und drückte die Klinke an der Tür nieder. Dann war sie verschwunden. Es herrschte wieder eine gespenstische Stille im Raum.
Kapitel 4
Mit hastigen Schritten lief Ulla Sommer die Treppen hinunter in das Kaminzimmer, denn diesmal sollte das Frühstück im Kaminzimmer stattfinden. Draußen schneite es immerfort. Sie konnte es gar nicht glauben, als sie diesen Schnee sah. Es war zwar etwas ungewöhnlich für Ende August. Doch in den Alpen kann es auch schon im August schneien. Dicke Flocken setzten sich auf Wiesen und Bäumen fest. Überall war kein Durchkommen mehr, so viel nasser Schnee war in der Nacht gefallen, Ende August. Ganz viel weißer Schnee, der matschig war, Schneeballen hätte man daraus keine formen können, denn dann wären sie einfach zusammengefallen. Sie erinnerte sich an die Schneemänner, die sie als Kind, dann später mit ihren Kindern und mit ihren Enkeln, auch in ihrem Paradies gebaut hatte, das ihr nicht mehr gehörte. Doch daran wollte sie nicht denken. Das war Vergangenheit, auch wenn es sehr schmerzhaft war. Sie wollte in die Zukunft schauen, wenn es für sie, in ihrem Alter, überhaupt noch eine Zukunft gab.
Vanessa und Vincent hatten den Gästen im Kaminzimmer schon erklärt, dass noch nie so viel Schnee in dieser Jahreszeit gefallen war. Dass der Winter schon so früh in dieses Alpental gekommen war, fand sie sehr merkwürdig, aber es passte zu diesem altertümlichen Hotel und dieser fragwürdigen Mordgeschichte des Ölmillionärs. Nun war doch tatsächlich noch ein Mord geschehen. Weshalb wurde dieser Axel Lehmann ermordet? Diesen Ansgar Hoch, der doch mit ihm gekommen war, hatte sie auch nicht mehr gesehen.
Ulla Sommer erinnerte sich an eine Zeit, als der Winter im Schwarzwald auch immer schon früh einkehrte, manchmal schon Ende September. Nicht selten schneite es auch im Oktober. Und manchmal blieb er auch ein halbes Jahr bis in den April hinein liegen.
Sie setzte sich nachdenklich auf einen Stuhl im Kaminzimmer. Wohlig knisterte es im Kamin, denn dort wurde nun mit Holz geheizt. Es roch gut, auch wenn manchmal etwas Rauch aufzog und der Abzug nicht richtig klappte.
„Gut, dass es noch so altmodische Kamine gibt und wir nun nicht ganz erfrieren werden in dieser Kälte“, sagte sie zu Karl Feistel, der mit Claudine Meister das Kaminzimmer betreten hatte. Irgendwie waren ihr die beiden unsympathisch. Sie hatten so einen lauernden Blick.
Beide setzten sich allerdings nicht zu ihr, was ihr auch gefiel, denn mit den beiden wollte sie nichts zu tun haben. Dann kam Sonja Netter in den Raum, spazierte erst auf Ulla Sommer zu, grüßte und lief dann aber doch auch zu Claudine Meister und Karl Feistel.
So langsam füllte sich das Kaminzimmer mit den Gästen, die aber alle ziemlich bleich und mit schwarzumrandeten Augen, richtig übernächtigt, den Raum betraten. Sie vermutete, dass sie alle nicht gut geschlafen hatten. Doch sie hatte sehr gut geschlafen, wie sie fand. Allerdings hatte sie wieder diesen seltsamen Traum, der bei ihr schon früher immer wiederkehrte und nun auch in diesem Schweizer Hotel. Sie lag in einem Krankenhaus, alles war weiß um sie herum und sie wollte nur ihren Winterschlaf halten. Bis heute konnte sie sich die Bedeutung dieses Traums nicht erklären.
Im Kaminzimmer war es wohlig warm und sie dachte nicht mehr an ihren Traum, der sie einfach wieder beschäftigte, wobei sie sich doch nach einer schönen, guten Zukunft sehnte, einer Zukunft ohne ihre quälenden Träume, auch wenn ihr Paradies für immer verschwunden und verloren war.
Im Raum herrschte wieder eine bedrückende Stille. Niemand sagte ein Wort, nur ein kurzes „Guten Morgen“ kam von den zusammengepressten Lippen der Gäste, die so langsam das Kaminzimmer füllten.
„Was ist denn das für eine Gesellschaft, eine richtige Trauergesellschaft?“, meinte Ulla Sommer mehr zu sich selbst.
Dann kam auch Albert Rehlein herein, der sich auch nur mit müden Augen umblickte und Ulla Sommer suchte. Auch er hatte nicht gut geschlafen und war an einem Traum aufgewacht, den er jedoch nicht so richtig einordnen konnte. Er hatte schon oft von seiner Mutter geträumt, die ihm immer noch etwas sagen wollte. Diesmal war sie ihm nur kurz im Traum erschienen. Dafür erschien ihm der Hoteldirektor, der einen Toten nach dem anderen in diesen Eiskeller brachte und immer wieder bei jedem Toten so ein krächzendes Lachen hervorbrachte. Es war direkt gruselig und bei diesem Gedanken an diesen Traum lief es ihm eiskalt den Rücken herunter.
Dann servierten Vanessa und Vincent Kaffee und Tee. Das Frühstücksbuffet war sehr reichhaltig. Käse, Schinken, Salami, Eier und kleine Würstchen luden zu einem herrlichen Mahl