Vielleicht brauche ich doch männlichen Schutz?, dachte sie, denn in dieser dunklen Halle mit den maskenhaften, kolonialen Figuren an den Wänden, die afrikanische Geisterbeschwörer oder Stammesfürsten darstellten, entstand für sie eine schaurige Atmosphäre. Doch da ging bereits das Licht an und es erschien eine Gestalt auf dem Bildschirm. Weder Haare noch Gesicht waren zu erkennen. Der Mann hatte einen Hut auf dem Kopf, der tief in sein Gesicht hineinragte. Dann ertönte eine blecherne Stimme, sodass sie zunächst zusammenzuckte, aber dann auch richtig aufpassen musste, dass sie auch jedes Wort verstand.
Sie flüsterte nur noch kurz zu Rehlein, dass sie ein bisschen Angst habe.
„Das brauchen Sie doch nicht zu haben, ich bin ja hier und beschütze Sie“, meinte dieser sehr fürsorglich zu ihr. Toll!, dachte sie nur.
„Aber in Ihre Arme werfe ich mich nicht, das wäre ja noch schöner!“, entgegnete sie kurz und lachte dabei ihr warmes Lachen, das bisher immer alle ihre Freunde und Freundinnen begeisterte.
Dann ertönte eine blecherne Stimme, die allen einen „Guten Abend“ wünschte, was mit Applaus quittiert wurde.
„Ich habe Sie hierher eingeladen, weil sie alle zusammen vor vielen Jahren in einen Mordfall verwickelt waren. Doch leider konnte man den Täter nicht dingfest machen.“
Es herrschte eine beängstigende Stille, man hätte fast eine Nadel auf den Fußboden fallen hören, so lautlos war es im Raum. Nicht mal den Atem des Nachbarn spürte Ulla Sommer. Niemand flüsterte, niemand blickte hoch, alle hielten ihre Köpfe gesenkt. Sie ebenfalls. Von Applaus keine Spur mehr. Ihre Gedanken kreisten um diesen Mordfall, aber es fiel ihr beim besten Willen nicht ein, wo und wann und mit wem von dieser Gruppe, sie in einen Mordfall verwickelt gewesen sein könnte.
„Nichts also mit Produkttesten, das war auch wieder so eine Irreführung!“, geiferte sie drauflos. Es war ihr gerade zum Stänkern zumute. Doch niemand schaute zu ihr hin. Auch nicht der Hoteldirektor, der sich immer noch im Raum befand.
Dann wurde es wieder heller im Saal. Das gedämmte Licht zuckte ein bisschen, bis es hell und immer heller wurde, dass man den Nachbarn auch wieder erkennen konnte. Aber die Tür blieb immer noch verschlossen. Ulla Sommer war ja keine ängstliche Person. Aber auch sie zuckte wieder zusammen, als plötzlich das grelle Neonlicht, wie ein Spotlight, auf sie und die Gäste gerichtet wurde. Dieses Neonlicht passte überhaupt nicht in diesen altertümlichen Raum. Aber seine Strahlen fielen auf die Gäste, bis es erlosch, sich wieder aufbäumte, um zum zweiten Mal in voller Lichtstärke, dann endgültig sein Ende zu besiegeln. Diese Szene hätte sich in einem mordbrünstigen Theaterstück wiederfinden können, dachte Ulla Sommer, die dieses ganze Theater den Gästen wie auch diesem altertümlichen Saal und der Eröffnung des Abends gegenüber nicht passend fand.
Als dann das Neonlicht ausgereizt war und ein dezenteres Licht in einem kristallenen Kandelaber erschien, trat auch der Direktor wieder aus dem Dunkel des Raums hervor und verkündete, dass das nun erst der Anfang der Geschichte war. „Der Anfang der Geschichte, welcher Geschichte denn?“, fragten die Gäste der OIL-Gruppe und ihre Gesichter drückten auch dementsprechend Besorgnis aus.
Ulla Sommer, die ansonsten ein sehr gutes Gedächtnis besaß, konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass sie mit diesen Leuten irgendetwas gemein hatte, schon gar nicht in einen Mordfall wollte sie mit diesen Leuten verwickelt sein. Also Demenz hatte sie keine, und auch selbst in ihrer Familie war niemals bei ihren engsten Verwandten eine Demenz festgestellt worden. Insofern wunderte sie sich nur, dass die Gäste diesen Mordfall, der niemals aufgeklärt wurde, einfach so ohne Regung hinnahmen.
Plötzlich ertönte jedoch die Stimme von Claudine Meister, die wieder in ihrem schwäbischen Dialekt in die Runde fragte, was denn für ein Tag heute sei.
„Was will sie denn den heutigen Tag wissen?“, flüsterte sie zu Rehlein.
Dieser bemerkte nur, dass heute Freitag, der 23. August war und schließlich auch auf der Einladung, Freitag, der 23. August, als Eröffnungstag für diese Erinnerungsreise angegeben war.
„Hier können Sie nachsehen!“, und dabei holte er einen kleinen Handtaschenkalender hervor. Doch keiner wollte nachsehen oder es überprüfen, denn es war ja bekannt, dass dieses Hotel von Freitag, 23. August für einige Tage für die Gäste gebucht war. Nur Claudine Meister zuckte bei diesem Datum merklich zusammen. Ulla Sommer wusste gleich, dass sich diese Meister an Freitag, den 23. August erinnern konnte.
„Jetzt erinnere ich mich, ich habe nämlich ein supergutes Gedächtnis!“, sprudelte Claudine Meister hervor. Doch dann verstummte sie wieder und alle, die sie umringten, hingen an ihren Lippen und fragten nach, was sie mit diesem 23. August in Erinnerung bringen würde.
Aber es kam kein Wort mehr von ihren Lippen, die sie fest zusammenpresste. Da hätte nicht mal ein Streichholz dazwischen gepasst. Ulla Sommer sah, wie sich alle anblickten und in ihren Erinnerungen kramten. Keiner sprach aber ein Wort und ließ die anderen an seinen Erinnerungen teilhaben. Sie blickten nur zu Boden, als schämten sie sich, wenn sie an diesen 23. August dachten.
Annette Fischer und Josef Haas blickten sich auch nur kurz an, als wollten sie was sagen. Renate und Arnim Hermann zogen sich beide in eine dunkle Ecke zurück. Sie wollten ihren Gästen ihre Erinnerung nicht mitteilen. Karl Feistel blickte nur zu Claudine Meister, die triumphierend die Anwesenden musterte. In ihren Augen erkannte Ulla Sommer wieder ein hämisches Grinsen. Sie blickte sie ziemlich forsch an, denn es war ihr sofort klar geworden, dass diese Claudine Meister mehr wusste als sie alle zusammen. Doch dann hielt diese Meister nur ihren Blick gesenkt, als hätte sie ein schlechtes Gewissen.
„Sie weiß es, sie kennt den Mordfall!“, sagte Ulla Sommer leise zu Peter Bloch, der sich ihr wieder genähert hatte. Norbert Neurer hatte sich auch Albert Rehlein und Peter Bloch angeschlossen. Axel Lehmann und Ansgar Hoch wechselten ebenfalls kurze Blicke miteinander. Sonja Netter wandte sich dann an Claudine Meister, als wollte sie etwas sagen. Aber beide wechselten keine Worte miteinander. Ulla Sommer registrierte alles. Sie allein war es, die sich nicht erinnern konnte, an welchen Mordfall dieser amerikanische Millionär anknüpfte. Sie hatte doch ein ganz passables und sehr gutes Gedächtnis. Doch sie schüttelte sich richtig, als sie daran dachte, dass sie mit diesen Leuten irgendetwas Schreckliches verband. Nur was, war hier die Frage, wie sie krampfhaft überlegte.
Der Hoteldirektor schloss dann sehr nachdenklich wieder die Tür der Bibliothek auf und alle waren wie erlöst, denn so eingeschlossen in diesem Raum mit dieser blechernen Stimme des Millionärs und den schweren Erinnerungen an einen Mordfall hatte die OIL-Gruppe sehr verunsichert.
Nun ging es in den Grand Salon. Dort sollte das Menü serviert werden, hörte sie den Direktor sagen. Eigentlich war ihr nicht mehr nach Essen zumute, aber man konnte ja mal sehen, was der Koch alles an Genüssen zaubern würde.
„Kommen Sie mit mir in den Speisesaal! Unser Küchenchef hat extra für Sie ein exzellentes Menü zusammengestellt, das soll sie nun ein bisschen belohnen für die schreckliche Nachricht, die Sie gerade vernommen haben. Es geht um einen Mordfall.“ Dabei betonte er diesen Mordfall mit einem eigentümlichen Unterton.
„Vergessen Sie nun den Mord, morgen erfahren Sie mehr vom Gastgeber!“, sprach der Direktor und verschwand kurz hinter einem Vorhang, der ein wahres Meisterwerk der Handwerkskunst darstellte. Denn der Brokatstoff war mit vielen Affenbildern und Schlangen kreiert worden. Dieses Motiv erinnerte ein bisschen an den Jugendstil, Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch daran, dass die Reisefreudigkeit in den Ländern damals groß war und besonders die Kolonien mit all ihren wilden Tieren sehr begehrenswert waren.
Vanessa und Vincent, die Servicekraft und der Page, verschwanden ebenfalls hinter diesem schwarzgrünen Vorhang, auf dem auch giftige Schlangen abgebildet waren. Die Augen der Kobras blitzten in einer grellgrünen Farbe, die zum dunklen, samtgrünen Vorhang einen künstlerischen Kontrast bildeten. Ihre Augen richteten sie auf ihre nächsten Opfer und ihre Zungen waren feuerrotspeiend. Ulla Sommer warf nur einen kurzen Blick auf diesen angsteinflößenden, aber doch auch aparten Vorhang. Sie fühlte, dass dieser schlangenspeiende Vorhang direkt in die Hölle führte.
Wo