»Kitty, es wird kühl! Nimm ein Tuch um oder komm ins Zimmer!«
»Es ist wirklich Zeit, daß ich gehe«, sagte Warjenka und stand auf. »Ich muß auch noch zu Madame Berthe gehen; sie hat mich darum gebeten.«
Kitty hielt ihre Hand gefaßt, und ihr stummer Blick fragte bittend mit leidenschaftlicher Neugier: ›Was ist es denn, was ist denn dieses Wichtigste, das einem solche Ruhe des Gemütes verleiht? Sie wissen es; sagen Sie mir es doch!‹ Aber Warjenka verstand gar nicht, wonach Kittys Blick sie fragte. Sie dachte nur daran, daß sie heute noch Madame Berthe besuchen und sich so einrichten müsse, daß sie rechtzeitig um zwölf Uhr zu Hause bei maman zum Tee sei. Sie ging ins Zimmer, nahm ihre Noten, verabschiedete sich von allen und schickte sich an zu gehen.
»Erlauben Sie, ich werde Sie begleiten«, sagte der Oberst.
»Gewiß, Sie können doch jetzt bei Nacht nicht allein gehen«, stimmte ihm die Fürstin zu. »Oder wenigstens möchte ich meine Parascha mit Ihnen mitschicken.«
Kitty sah, daß Warjenka nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückte, als sie hörte, daß man für sie eine Begleitung als notwendig erachtete.
»Nicht doch; ich gehe immer allein, und es ist mir noch nie etwas zugestoßen«, sagte sie und griff nach ihrem Hute. Sie küßte Kitty noch einmal, und ohne gesagt zu haben, was denn nun jenes Wichtige sei, verschwand sie festen, flinken Schrittes, mit den Noten unter dem Arm, in dem Halbdunkel der Sommernacht und nahm ihr Geheimnis mit sich, was das Wichtige sei, dem sie diese beneidenswerte Ruhe und Würde zu verdanken hatte.
33
Kitty wurde auch mit Frau Stahl bekannt, und diese Bekanntschaft, im Verein mit der Freundschaft zu Warjenka, übte nicht nur einen starken Einfluß auf ihre Lebensanschauungen aus, sondern tröstete sie auch in ihrem Kummer. Sie fand diesen Trost darin, daß sich ihr, dank dieser Bekanntschaft, eine völlig neue Welt erschloß, die mit ihrer Vergangenheit nichts gemein hatte, eine erhabene, schöne Welt, von deren Höhe man mit ruhigem Gemüte auf diese Vergangenheit hinblicken konnte. Es erschloß sich ihr die Erkenntnis, daß es außer dem triebmäßigen Leben, dem sie sich bisher hingegeben hatte, auch ein geistiges Leben gebe. Dieses Leben erschloß sich ihr in der Religion, aber in einer Religion, die nichts gemein hatte mit der, die ihr von Kindheit an bekannt war und ihren Ausdruck darin fand, daß man die Mittagsmesse besuchte und den Abendgottesdienst im Witwenhause, wo man sich mit seinen Bekannten treffen konnte, und daß man beim Geistlichen Bibelstellen in altslawischer Sprache auswendig lernte. Dies war im Gegensatze dazu eine erhabene, geheimnisvolle Religion, die mit einer ganzen Reihe schöner Gedanken und Gefühle verknüpft war, eine Religion, an die man nicht nur glauben konnte, weil es befohlen war, sondern die man auch lieben konnte.
Kitty lernte dies alles nicht aus Worten. Madame Stahl sprach mit ihr wie mit einem lieben Kinde, auf das man mit Freude hinblickt wie auf eine Erinnerung an die eigene Jugendzeit, und deutete nur einmal darauf hin, daß bei allem menschlichen Leide nur Liebe und Glaube Trost gewähren und daß Christus mit jedem menschlichen Kummer, auch mit dem nichtigsten, Mitleid habe; aber dann lenkte sie sofort das Gespräch auf ein anderes Gebiet. Aber Kitty lernte aus jeder ihrer Bewegungen, aus jedem ihrer Worte, aus jedem ihrer, wie Kitty sie nannte, himmlischen Blicke und namentlich aus ihrer ganzen Lebensgeschichte, die sie durch Warjenka erfuhr, aus alledem lernte sie, was das Wichtige war, das sie bis dahin nicht gekannt hatte.
Aber wie edel auch Frau Stahls Charakter war, wie rührend ihre ganze Lebensgeschichte, wie hochsinnig und zärtlich ihre Worte, so nahm Kitty doch an ihr auch einzelne Züge wahr, die sie befremdeten. Sie bemerkte, daß, als sie von Madame Stahl nach ihren Angehörigen befragt wurde und Auskunft gab, diese geringschätzig lächelte, was doch der christlichen Liebe zuwiderlief. Ferner bemerkte sie, als sie einmal Madame Stahl in ihrer Wohnung im Gespräch mit einem katholischen Priester antraf, daß diese geflissentlich ihr Gesicht im Schatten des Lampenschirmes hielt und in eigentümlicher Weise lächelte. So unbedeutend diese beiden Beobachtungen auch waren, so machten sie Kitty doch ganz betroffen und ließen in ihr Zweifel über Frau Stahl aufsteigen. Warjenka dagegen, die so einsam dastand, ohne Verwandte, ohne Freunde, mit einer traurigen Enttäuschung im Herzen, Warjenka, die sich nichts wünschte, über nichts klagte, die war für Kitty jenes schlechthin vollkommene Wesen, von dem sie sich bisher nur in ihrer Einbildungskraft ein Bild geschaffen hatte. An Warjenka hatte sie einsehen gelernt, daß man nur sich selbst zu vergessen und andere zu lieben brauche, um ruhig, glücklich und gut zu sein. Und so zu sein, war Kittys Streben. Nachdem Kitty jetzt erkannt hatte, was jenes Wichtigste war, begnügte sie sich nicht damit, begeistert dafür zu schwärmen, sondern sie gab sich sofort mit ganzer Seele diesem neuen Leben hin, das sich vor ihr aufgetan hatte. Auf Grund von Warjenkas Mitteilungen über das viele Gute, was Madame Stahl und andere von ihr mit Namen genannte Frauen wirkten, arbeitete Kitty sich schon jetzt einen Plan für ihr künftiges Leben aus. Sie wollte, ebenso wie Frau Stahls Nichte Aline, von der ihr Warjenka viel erzählt hatte, wo auch immer sie ihren Wohnsitz haben würde, die Unglücklichen aufsuchen, ihnen helfen soviel als nur irgend möglich, Neue Testamente verteilen, den Kranken, den Verbrechern und den Sterben den aus den Evangelien vorlesen. Der Gedanke, Verbrechern das Evangelium vorzulesen, wie dies Aline tat, hatte für Kitty etwas besonders Reizvolles. Aber alles dies waren geheime Zukunftsträumereien, über die Kitty weder mit ihrer Mutter noch mit Warjenka sprach.
Übrigens fand Kitty in Erwartung der Zeit, da sie ihre Pläne würde in größerem Maßstabe zur Ausführung bringen können, auch bereits jetzt in diesem Badeorte, wo es so viele Kranke und Unglückliche gab, mühelos mancherlei Gelegenheit, ihre neuen Lebensgrundsätze in die Tat umzusetzen und so ihrer Freundin Warjenka nachzueifern.
Anfangs bemerkte die Fürstin nur, daß Kitty sich unter dem starken Einflusse ihres engouement, wie sie es nannte, für Frau Stahl und besonders für Warjenka befand. Sie sah, daß Kitty ihre bewunderte Warjenka nicht nur in deren Tätigkeit nachahmte, sondern diese Nachahmung sich unwillkürlich auch auf deren Art zu gehen, zu sprechen und mit den Augen zu blinzeln erstreckte. Aber später nahm die Fürstin wahr, daß sich bei ihrer Tochter, unabhängig von dieser Bezauberung, eine ernste seelische Umwandlung vollzog.
Die Fürstin sah, daß Kitty abends oft in einem französischen Neuen Testamente las, das ihr von Frau Stahl geschenkt worden war, während sie doch früher dergleichen nie getan hatte; daß sie ihre Bekannten aus den vornehmeren Kreisen mied und mit den Kranken umging, die sich unter Warjenkas Pflege befanden, und namentlich mit der armen Familie eines kranken Malers Petrow. Kitty war augenscheinlich stolz darauf, daß sie bei dieser Familie die Pflichten einer barmherzigen Schwester erfüllte. Alles dies war ganz schön und gut, und die Fürstin hatte nichts dagegen, um so weniger, da Frau Petrowa eine durchaus anständige Frau war und die deutsche Fürstin, der Kittys Tätigkeit bekannt geworden war, sie gelobt und einen Engel des Trostes genannt hatte. Es wäre alles sehr schön gewesen, wenn dabei keine Übertreibung stattgefunden hätte; aber die Fürstin Schtscherbazkaja sah, daß ihre Tochter in Übertreibung hineingeriet, und sprach sich darüber auch zu ihr aus.
»Il ne faut jamais rien outrer«, sagte sie zu ihr.
Aber die Tochter gab ihr keine Antwort; sie dachte nur in ihrem Herzen, daß man von einem Übermaß im christlichen Handeln doch nicht reden könne. Was für ein Übermaß sei denn möglich bei der Befolgung einer Lehre, die befehle, die andere Backe hinzuhalten, wenn man auf die eine einen Schlag erhalte, und auch den Rock hinzugeben, wenn einem der Mantel genommen werde? Der Fürstin aber mißfiel diese Übertreibung, und noch mehr mißfiel es ihr, daß, wie ihr nicht entging, Kitty nicht ihr ganzes Herz vor ihr auf schließen mochte. Denn in der Tat machte Kitty aus ihren neuen Ansichten und Gefühlen der Mutter gegenüber ein Geheimnis. Und sie tat das nicht etwa, weil sie ihre Mutter nicht verehrt und geliebt hätte, sondern lediglich deshalb, weil das eben ihre Mutter war. Sie hätte von dieser ihrer neuen Gemütsrichtung jedem andern eher Kenntnis gegeben als gerade der Mutter.
»Ich wundere mich, daß Anna Pawlowna schon so lange nicht bei uns gewesen ist«, sagte eines Tages