»Das ist nun unsere Aristokratie, Fürst!« bemerkte in dem Wunsche, sarkastisch zu sein, der Moskauer Oberst, der über Frau Stahl scharf urteilte, weil er nicht zu ihren Bekannten gehörte.
»Sie ist immer noch dieselbe«, antwortete der Fürst.
»Sie haben sie wohl noch vor ihrer Krankheit gekannt, Fürst? Ich meine, bevor sie sich für die Dauer hingelegt hat?«
»Ja. Ich besinne mich noch auf die näheren Umstände, als sie sich legte.«
»Es heißt, sie stände seit zehn Jahren nicht mehr auf ...«
»Sie steht nicht auf, weil sie sehr kurze Beine hat; sie ist recht schlecht gebaut ...«
»Papa, das ist nicht möglich!« rief Kitty.
»Böse Zungen wollen das behaupten, mein Herzchen. Und deine Warjenka hat auch bei ihr ein schweres Dasein«, fügte er hinzu. »Ja, ja, diese kranken Damen!«
»O nein, Papa«, erwiderte Kitty eifrig. »Warjenka vergöttert sie. Und dann tut sie so viel Gutes! Da kannst du fragen, wen du willst! Sie und Aline Stahl sind überall bekannt.«
»Das kann ja sein«, sagte er und drückte mit seinem Ellbogen ihren Arm. »Aber noch besser ist es, das Gute so zu tun, daß niemand, man mag fragen, wen man will, davon weiß.«
Kitty schwieg; sie hätte wohl etwas zu erwidern gehabt; aber auch dem Vater mochte sie ihre geheimsten Gedanken nicht enthüllen. Aber seltsam: obwohl sie sich dagegen sträubte, sich der Ansicht ihres Vaters unterzuordnen und sie in ihr innerstes Heiligtum aufzunehmen, so fühlte sie doch, daß jenes gottähnliche Bild der Frau Stahl, das sie einen ganzen Monat lang in ihrer Seele getragen hatte, unwiederbringlich verschwunden war, so wie eine Gestalt, die wir in einem hingeworfenen Kleide zu sehen glaubten, verschwindet, sobald wir uns darüber klarwerden, wie das leere Kleid in Wirklichkeit daliegt. Es blieb nur eine kurzbeinige Frau übrig, die dauernd lag, weil sie eine schlechte Figur hatte, und die fügsame Warjenka quälte, wenn sie ihr das Tuch nicht nach Wunsch umwickelte. Und wie sie auch ihre Einbildungskraft anstrengte, es war ihr nicht mehr möglich, sich das frühere Bild der Madame Stahl wiederherzustellen.
35
Der Fürst steckte alle Leute mit seiner fröhlichen Stimmung an: seine Angehörigen, seine Bekannten und sogar den deutschen Wirt, bei dem Schtscherbazkis wohnten.
Als er mit Kitty vom Brunnen zurückgekehrt war, wo er auch den Obersten, Marja Jewgenjewna und Warjenka eingeladen hatte, den Kaffee bei ihm zu Hause zu trinken, ließ der Fürst einen Tisch und Stühle in das Gärtchen unter einen Kastanienbaum bringen und dort das Frühstück auftragen. Auch der Wirt und die Dienerschaft wurden unter der Einwirkung seiner frohen Laune ganz munter und lebendig. Sie kannten seine Freigebigkeit, und eine halbe Stunde später blickte der kranke Hamburger Doktor, der im oberen Stockwerk wohnte, mit Neid durch das Fenster nach dieser lustigen russischen Gesellschaft von gesunden Menschen hinunter, die sich da unter dem Kastanienbaum versammelt hatte. In dem geringelten, zitternden Schatten des Laubwerks stand der weißgedeckte Tisch, besetzt mit dem Kaffeegeschirr, mit Brot, Butter, Käse und kaltem Wildbret. An dem einen Ende saß die Fürstin in einem Häubchen mit lila Bändern und verteilte die Tassen und die Butterbrötchen. Am anderen Ende saß, tüchtig essend und heiter plaudernd, der Fürst; neben sich hatte er seine Einkäufe ausgebreitet: geschnitzte Kästchen, Berlocken, Papiermesser der verschiedensten Art, kurz einen ganzen Haufen von Dingen, die er in allen Badeorten erstanden hatte, nach denen er gekommen war, und verschenkte sie nun nach allen Seiten; auch das Dienstmädchen Lieschen wurde bedacht, ebenso wie der Wirt, mit dem er in seinem komischen schlechten Deutsch scherzte, nicht das Brunnentrinken habe Kitty gesund gemacht, sondern seine vorzügliche Beköstigung, ganz besonders die Suppe mit Backpflaumen. Die Fürstin zog ihren Mann ein bißchen auf wegen seiner russischen Gewohnheiten, war aber so lebhaft und vergnügt, wie sie es während des ganzen Badeaufenthaltes noch nicht gewesen war. Der Oberst lächelte, wie immer, zu den Späßen des Fürsten; nur in der Beurteilung des nichtrussischen Europas, das er seiner Ansicht nach genau studiert hatte, stand er auf seiten der Fürstin. Die gutmütige Marja Jewgenjewna schüttelte sich vor Lachen bei allem, was der Fürst Komisches vorbrachte, und Warjenka war, was Kitty noch nie gesehen hatte, ganz matt geworden von dem leisen, aber anhaltenden Lachen, zu dem die Späßchen des Fürsten sie reizten.
Auch Kitty hatte an alledem ihre Freude, ohne daß sie jedoch vermocht hätte, ihre sorgenvolle Stimmung loszuwerden. Sie konnte das Rätsel nicht lösen, das ihr der Vater, ohne es eigentlich zu beabsichtigen, durch seine lustige Ansicht über ihre Freunde und über die ihr so liebgewordene Lebensweise aufgegeben hatte. Zu diesem Rätsel trat noch die Veränderung ihres Verhältnisses zu Petrows, die heute in so zweifelloser und unangenehmer Weise zutage getreten war. Alle waren heiter, nur Kitty konnte nicht heiter sein, und das quälte sie noch mehr. Sie hatte eine ähnliche Empfindung, wie sie sie als Kind gehabt hatte, wenn sie zur Strafe in ihr Zimmer eingeschlossen war und das vergnügte Lachen ihrer Schwestern hörte.
»Wozu hast du denn eigentlich diese Unmenge von Sachen gekauft?« fragte die Fürstin lächelnd und reichte ihrem Manne eine Tasse Kaffee hin.
»Ja, man geht so spazieren, und da kommt man an einen Laden, und da fordern einen die Leute auf, man möchte doch etwas kaufen: ›Erlaucht, Exzellenz, Durchlaucht!‹ Na, und wenn sie erst sagen: ›Durchlaucht!‹, dann kann ich nicht mehr widerstehen, und so sind zehn Taler hin.«
»Das kommt nur davon, daß du dich langweilst«, meinte die Fürstin.
»Natürlich, nur davon. Man langweilt sich so, daß man gar nicht weiß, was man anfangen soll.«
»Wie kann man sich überhaupt nur langweilen, Fürst? Es gibt jetzt so viel Interessantes in Deutschland«, bemerkte Marja Jewgenjewna.
»Aber ich kenne alles Interessante schon: die Suppe mit Backpflaumen kenne ich, und die Erbswurst kenne ich, alles kenne ich.«
»Nein, aber das müssen Sie doch selbst sagen, Fürst, die gesamte Einrichtung des Lebens hier in Deutschland ist wirklich interessant«, sagte der Oberst.
»Was ist denn daran interessant? Alle sind sie hier mit sich zufrieden wie ein Kupferdreier; sie haben alle ihre Gegner besiegt. Aber was habe ich denn für einen Grund zur Zufriedenheit? Ich habe niemanden besiegt; wohl aber muß ich mir hier die Stiefel allein ausziehen und sie obendrein noch selbst vor die Tür stellen. Am Morgen heißt es früh aufstehen, sich schleunigst anziehen und in den Speisesaal gehen, um scheußlich schlechten Tee zu trinken. Wie anders bei uns zu Hause! Man wacht auf, ohne sich damit im geringsten zu beeilen; dann ärgert man sich ein bißchen über irgend etwas; man brummt ein bißchen; dann sammelt man so allmählich seine Gedanken; man überlegt sich alles in Ruhe; man überhastet sich nicht.«
»Aber Sie vergessen: Zeit ist Geld!« wandte der Oberst ein.
»Ja, ja! Aber es kommt darauf an, was es für Zeit ist. Manche Zeit ist von der Art, daß man einen ganzen Monat davon gut und gern für einen halben Rubel hingeben möchte; und dann wieder manchmal ist einem eine halbe Stunde für alle Schätze der Welt nicht feil. Meinst du nicht auch, Katjenka? Was hast du denn? Du siehst ja so trübselig aus?«
»Mir fehlt nichts.«
»Wo wollen Sie denn schon hin? Bleiben Sie doch noch ein Weilchen!« wandte er sich an Warjenka.
»Ich muß nach Hause«, antwortete Warjenka und stand auf; sie mußte immer noch von neuem lachen. Indessen zwang sie sich zu einer ruhigen Haltung, empfahl sich und ging in das Haus, um ihren Hut zu holen. Kitty begleitete sie. Sogar Warjenka erschien ihr jetzt als eine andere. Sie war zwar in ihren Augen nicht schlechter geworden; aber sie war jetzt doch eine andere als die, die sie früher in Kittys Vorstellung gewesen war.
»Ach, ich habe schon seit langer Zeit nicht mehr so gelacht!« sagte Warjenka, indem sie