»Bist du in letzter Zeit bei ihnen gewesen?«
»Wir haben vor, morgen eine Spazierfahrt in die Berge zu machen«, erwiderte Kitty.
»Nun schön, tut das!« antwortete die Fürstin; sie blickte der Tochter in das verlegene Gesicht und bemühte sich, die Ursache dieser Verwirrung zu erraten.
An demselben Tage kam Warjenka zum Mittagessen und brachte die Mitteilung, Anna Pawlowna habe den Gedanken, morgen in die Berge zu fahren, wieder aufgegeben. Die Fürstin bemerkte, daß Kitty wieder errötete.
»Kitty, hast du vielleicht irgendwelche Mißhelligkeit mit Petrows gehabt?« fragte die Fürstin, als sie beide wieder allein waren. »Warum schickt sie ihre Kinder nicht mehr her und kommt auch selbst nicht mehr zu uns?«
Kitty erwiderte, es sei zwischen ihnen nichts vorgefallen, und sie könne durchaus nicht begreifen, warum Anna Pawlowna, wie es allerdings scheine, auf sie böse sein sollte. Kittys Antwort entsprach durchaus der Wahrheit. Sie kannte den Grund für Anna Pawlownas verändertes Benehmen ihr gegenüber nicht, aber allerdings ahnte sie ihn. Sie ahnte etwas, was sie der Mutter nicht sagen konnte, ja was sie nicht einmal sich selbst eingestehen mochte. Es war eine von den Sachen, die man zwar zu wissen glaubt, über die man aber nicht einmal mit sich selbst deutlich reden mag; so schrecklich und beschämend wäre es, wenn man sich geirrt hätte.
Wieder und wieder ging sie in ihrer Erinnerung alle ihre Beziehungen zu dieser Familie durch. Sie gedachte der unverstellten Freude, die sich immer auf Anna Pawlownas rundem, gutmütigem Gesichte gemalt hatte, sooft sie einander trafen; sie gedachte ihrer geheimen Beratungen über den Kranken, der Verabredungen darüber, wie sie ihn von der ihm ärztlich verbotenen Arbeit abhalten und ihn zu fleißigem Spazierengehen veranlassen könnten; sie dachte an die Anhänglichkeit des jüngsten Knaben, der sie ›meine Kitty‹ nannte und ohne sie nicht schlafen gehen wollte. Wie schön das alles gewesen war! Dann vergegenwärtigte sie sich Petrows entsetzlich abgemagerte Gestalt, mit dem langen Halse, in dem braunen Oberrocke, sein spärliches, gelocktes Haar, seine fragenden blauen Augen, die ihr in der ersten Zeit so schrecklich gewesen waren, und seine peinlichen Anstrengungen, in ihrer Gegenwart frisch und munter zu erscheinen. Sie erinnerte sich, wie schwer es ihr anfangs geworden war, den Widerwillen zu überwinden, den sie gegen ihn wie gegen alle Schwindsüchtigen empfand, und wie sie sich bemüht hatte, einen Stoff zu ersinnen, über den sie mit ihm reden könnte. Sie dachte auch an die schüchternen, gerührten Blicke, mit denen er sie anzusehen pflegte, und an ihre seltsame, aus Mitleid und Unbehaglichkeit gemischte Empfindung, und wie sie dann bei dieser Tätigkeit sich ihrer eigenen Tugendhaftigkeit bewußt gewesen war. Wie schön war das alles gewesen! Aber alles nur in der ersten Zeit. Jetzt seit einigen Tagen war alles plötzlich zunichte geworden. Anna Pawlowna benahm sich gegen sie mit gekünstelter Liebenswürdigkeit und ließ sie und ihren Mann keinen Augenblick unbeobachtet.
Sollte vielleicht seine rührende Freude, sooft er sie sah, die Ursache zu Anna Pawlownas kühlem Verhalten sein?
›Ja‹, sagte sich Kitty, in ihren Erinnerungen herumsuchend, ›Anna Pawlowna hatte in ihrem Wesen etwas Unnatürliches, was gar nicht zu ihrer Herzensgüte stimmte, als sie vorgestern ganz ärgerlich sagte: »Da hat er nun die ganze Zeit auf Sie gewartet und hat nicht wollen Kaffee trinken, ehe Sie nicht da wären, obgleich er darüber ganz schwach geworden ist.« – Ja, vielleicht war es ihr auch nicht recht, als ich ihm neulich das Umschlagtuch reichte. Das war doch etwas so Unbedeutendes, Gleichgültiges; aber er nahm das in einer so ungeschickten Weise auf und bedankte sich so lange dafür, daß auch ich ganz verlegen wurde. Und dann die Geschichte mit meinem Bild, das ihm so gut gelungen war. Und besonders seine verwirrten, zärtlichen Blicke! ... Ja, ja, es ist so!‹ dachte Kitty entsetzt. ›Aber nein, das kann, das darf nicht sein! Er ist so bejammernswert!‹ sagte sie bei sich.
Dieser Zweifel verdarb ihr die Freude an ihrer neuen Lebenseinrichtung.
34
Noch vor dem eigentlichen Ende seiner Kurzeit kehrte Fürst Schtscherbazki zu den Seinigen zurück. Nach dem Kuraufenthalte in Karlsbad hatte er noch in Baden und Kissingen russische Bekannte besucht, um, wie er sich ausdrückte, einmal wieder russischen Duft zu riechen.
Die Ansichten des Fürsten und der Fürstin über das Leben im Auslande standen zueinander in schroffstem Gegensatze. Die Fürstin fand draußen alles schön und herrlich, und obwohl sie in der russischen Gesellschaft eine fest begründete Stellung hatte, bemühte sie sich im Ausland, einer europäischen Dame zu gleichen (was sie eben nicht war, da sie doch Russin war und blieb), und verstellte sich daher, was ihr zum Teil recht unbequem wurde. Der Fürst dagegen fand im Ausland alles greulich, das europäische Leben war ihm widerwärtig, er blieb seinen russischen Gewohnheiten treu und bemühte sich im Auslande absichtlich, sich noch weniger europafreundlich zu zeigen, als er es in Wirklichkeit war.
Der Fürst kehrte magerer zurück, die Haut an seinen Backen hing sackartig herunter; aber er befand sich in höchst vergnügter Stimmung. Seine vergnügte Stimmung steigerte sich noch mehr, als er sah, daß Kitty vollständig wiederhergestellt war. Die Nachricht von Kittys Freundschaft mit Frau Stahl und Warjenka und die Mitteilungen der Fürstin über die von ihr beobachtete Veränderung, die mit Kitty vorgegangen war, machten den Fürsten allerdings stutzig und erregten bei ihm das gewöhnliche Gefühl der Eifersucht gegen alles, wofür sich seine Tochter außer ihm interessierte, und die Befürchtung, die Tochter könnte sich auf ein ihm unzugängliches Gebiet begeben und sich so seinem Einflusse entziehen. Aber diese unangenehmen Nachrichten gingen unter in dem Meere jener Gutmütigkeit und Heiterkeit, die in seinem Wesen lag und durch die Karlsbader Kur noch zugenommen hatte.
Am Tage nach seiner Ankunft ging der Fürst in seinem langen Überrock, mit seinen russischen Runzeln und seinen schwammigen Hängebacken, die von einem steif gestärkten Kragen gestützt wurden, in heiterster Gemütsstimmung mit seiner Tochter zum Brunnen.
Es war ein wunderschöner Morgen: die sauberen, freundlichen Häuschen mit den Gärtchen davor, der Anblick der rotbackigen, rotarmigen, vom Biertrinken kräftigen, fröhlich arbeitenden deutschen Dienstmädchen, dazu die helle Sonne: alles machte das Herz lustig; aber je mehr sie sich dem Brunnen näherten, um so häufiger trafen sie auf Kranke, und ihr Anblick wirkte noch trauriger in dem gewöhnlichen Strom des wohlgeordneten deutschen Lebens. Kitty fühlte sich durch diesen Gegensatz nicht mehr überrascht; der helle Sonnenschein, das heiter glänzende Grün der Bäume und Grasflächen, die Klänge der Musik bildeten nach ihrer Auffassung den natürlichen Rahmen für alle diese bekannten Gesichter und für die Veränderungen zum Schlimmeren oder zum Besseren, die sie an ihnen verfolgte. Dem Fürsten dagegen erschien dieser strahlende Glanz des Junimorgens und die Klänge des Orchesters, das einen flotten Modewalzer spielte, und besonders der Anblick der von Gesundheit strotzenden Dienstmädchen als etwas Unpassendes und Ungeheuerliches in der Nebeneinanderstellung mit diesen traurig einherschleichenden Leichnamen, die sich hier von allen Enden Europas zusammengefunden hatten.
Obgleich er ein Gefühl des Stolzes empfand und ihm sogar beinahe zumute war, wie wenn seine eigene Jugend wiedergekehrt sei, als er so mit seiner Lieblingstochter am Arme einherschritt, so scheute und schämte er sich doch gewissermaßen wegen seines kräftigen Ganges und seiner kernigen, wohlgenährten Glieder. Er hatte eine ähnliche Empfindung, wie wenn jemand unbekleidet in eine Gesellschaft träte.
»Mach mich mit deinen neuen Freunden bekannt!« sagte er zu seiner Tochter und drückte dabei mit dem Ellbogen ihren Arm. »Ich habe sogar dieses garstige Soden liebgewonnen, weil es dich wieder so zurechtgebracht hat. Nur traurig, sehr traurig ist es hier bei euch. Wer ist das hier?«
Kitty nannte ihm die Namen der Begegnenden, mit denen sie Bekanntschaft gemacht oder auch nicht gemacht hatte. Dicht am Eingang in den Kurgarten trafen sie die blinde Madame Berthe mit einer Führerin, und der Fürst freute sich über den gerührten Gesichtsausdruck der alten Französin, als sie Kittys Stimme hörte. Sie zog ihn sofort mit dem echt französischen Überschwange von Liebenswürdigkeit in ein Gespräch, pries ihn glücklich, weil er eine so allerliebste Tochter habe, und erhob Kitty