»Nein, ich komme ein andermal nicht wieder her; das regt mich doch gar zu sehr auf«, sagte die Fürstin Betsy. »Nicht wahr, Anna?«
»Aufregend ist es; aber man kann sich doch nicht davon losreißen«, meinte eine andere Dame. »Wäre ich eine Römerin gewesen, so hätte ich an keinem Kampftage im Zirkus gefehlt.«
Anna erwiderte nichts und blickte, ohne das Opernglas abzusetzen, immer nach einer Stelle hin.
In diesem Augenblick ging ein hoher General durch die Loge. Alexei Alexandrowitsch unterbrach seine Auseinandersetzung, stand eilig, aber dabei doch würdevoll auf und verbeugte sich tief vor dem vorübergehenden Offizier.
»Sie reiten das Rennen nicht mit?« fragte ihn der Offizier scherzend.
»Mein Rennen ist schwieriger«, antwortete Alexei Alexandrowitsch achtungsvoll.
Und obgleich diese Erwiderung eigentlich keinen rechten Sinn hatte, machte der hohe Offizier doch eine Miene, als habe er von einem geistreichen Manne ein geistreiches Wort vernommen und verstehe völlig la pointe de la sauce.
»Es sind da zwei Standpunkte zu unterscheiden«, fuhr Alexei Alexandrowitsch von neuem in seiner Darlegung fort, »der der aktiv Beteiligten und der der Zuschauer. Die Lust an solchen Schauspielen ist bei den Zuschauern, das muß ich zugeben, ein sicheres Zeichen eines niedrigen Bildungsgrades; aber ...«
»Nun, Fürstin, wollen wir wetten?« erscholl von unten her die Stimme Stepan Arkadjewitschs, der sich an Betsy wandte. »Auf wen halten Sie?«
»Anna und ich halten auf den Fürsten Kusowlew«, erwiderte Betsy.
»Ich auf Wronski. Um ein Paar Handschuhe!«
»Es gilt!«
»Wie hübsch das Rennen ist, nicht wahr?«
Alexei Alexandrowitsch hatte einen Augenblick geschwiegen, während dies dicht neben ihm gesprochen wurde; aber dann begann er sogleich wieder:
»Ich muß zugeben, daß unmännliche Spiele ...«
Aber er konnte nicht weiterreden, da in diesem Augenblicke die Reiter starteten und alle Gespräche abgebrochen wurden. Auch Alexei Alexandrowitsch verstummte. Alle waren aufgestanden und hatten sich nach dem Flüßchen hingewandt. Für das Rennen hatte Alexei Alexandrowitsch kein Interesse, und daher blickte er nicht nach den Reitern hin, sondern er ließ seine müden Augen durch die Reihen der Zuschauer wandern. Sein Blick blieb auf Anna haften.
Ihr Gesicht war blaß und tiefernst. Sie sah offenbar nichts und niemanden außer einem einzigen. Ihre Hand preßte sich krampfhaft um den Fächer zusammen, und sie atmete kaum. Er betrachtete sie einen Augenblick; dann wandte er sich eilig ab und sah nach anderen Gesichtern hin.
›Da, diese Dame da‹, sagte er zu sich selbst, ›und dort noch andere Damen sind auch sehr aufgeregt; das ist etwas sehr Natürliches.‹ Er wollte seine Frau nicht noch einmal ansehen; aber er fühlte seinen Blick unwillkürlich wieder dorthin gezogen. So schaute er denn von neuem in dieses Gesicht, bemüht, das nicht zu lesen, was doch so deutlich darauf geschrieben stand, und gegen seinen Willen las er darauf mit Entsetzen, was zu wissen er sich sträubte.
Der erste Sturz eines Reiters – Kusowlew war am Flüßchen gestürzt – setzte alle in Aufregung; aber an Annas blassem, triumphierendem Gesichte sah Alexei Alexandrowitsch deutlich, daß der, nach dem sie hinsah, nicht gestürzt war. Als dann Machotin und Wronski die große Hürde genommen hatten und darauf der ihnen folgende Offizier an dieser selben Stelle auf den Kopf stürzte und schwerverletzt besinnungslos liegenblieb und ein dumpfes Gemurmel des Schreckens durch die ganze Zuschauerschaft ging, da sah Alexei Alexandrowitsch, daß Anna diesen Vorfall gar nicht einmal bemerkt hatte und nur mit Mühe begriff, wovon um sie herum gesprochen wurde. Aber immer häufiger und häufiger und mit immer größerer Hartnäckigkeit betrachtete er sie. Obgleich Anna in den Anblick des dahinjagenden Wronski ganz versunken war, fühlte sie doch den Blick der kalten Augen ihres Mannes von der Seite her auf sich gerichtet.
Sie sah sich einen Augenblick um, blickte ihn fragend an, zog leicht die Brauen zusammen und wandte sich wieder von ihm ab.
Es war, als ob sie zu ihm sagte: ›Ach, mir ist alles gleich!‹ Und von nun an blickte sie kein einziges Mal mehr nach ihm hin.
Es war ein Unglücksrennen: von den siebzehn Reitern stürzten und verletzten sich mehr als die Hälfte. Am Schlusse des Rennens waren alle Zuschauer in großer Erregung, die noch dadurch erhöht wurde, daß der Kaiser sich mißfällig geäußert hatte.
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Alle sprachen laut ihre Mißbilligung aus; alle wiederholten die von irgend jemand gebrauchte Wendung: ›Nun fehlt nur noch der Zirkus mit den Löwen‹, und alle waren dermaßen von Entsetzen erfüllt, daß, als Wronski stürzte und Anna laut aufstöhnte, darin nichts Auffallendes lag. Aber gleich darauf ging auf Annas Gesicht eine Veränderung vor, die denn doch unbedingt eine Verletzung des Anstandes bildete. Sie war vollständig außer sich; sie bewegte zuckend die Glieder wie ein ergriffener Vogel; mehrmals wollte sie aufstehen und weggehen, ohne selbst recht zu wissen, wohin; dann wieder wandte sie sich an Betsy.
»Wir wollen wegfahren, wir wollen wegfahren!« sagte sie.
Aber Betsy hörte nicht nach ihr hin. Sich über die Brüstung der Loge hinabbeugend, sprach sie mit einem General, der zu ihr herangetreten war.
Alexei Alexandrowitsch ging zu Anna hin und bot ihr höflich seinen Arm.
»Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir gehen«, sagte er auf französisch; aber Anna horchte darauf hin, was der General sagte, und beachtete ihren Mann gar nicht.
»Wie es heißt, hat er sich ebenfalls das Bein gebrochen«, sagte der General. »Eine ganz unerhörte Geschichte!«
Anna hob, ohne ihrem Manne zu antworten, das Glas an die Augen und blickte nach der Stelle hin, wo Wronski gestürzt war; aber die Entfernung war so weit und das Menschengedränge dort so groß, daß sich nichts unterscheiden ließ. Sie setzte das Glas wieder ab und wollte gehen; aber in diesem Augenblicke galoppierte ein Offizier herbei und machte dem Kaiser eine Meldung. Anna beugte sich vor, um zu hören.
»Stiwa, Stiwa!« rief sie ihrem Bruder zu.
Aber dieser hörte sie nicht. Wieder wollte sie aus der Loge hinaus.
»Ich biete Ihnen noch einmal meinen Arm an, wenn Sie weggehen wollen«, sagte Alexei Alexandrowitsch, indem er ihre Hand berührte.
Mit einer Miene des Widerwillens wich sie von ihm zurück und antwortete, ohne ihm ins Gesicht zu sehen:
»Nein, nein, lassen Sie mich nur; ich bleibe hier.«
Sie sah jetzt, daß von dem Orte, wo Wronski gestürzt war, ein Offizier quer durch die Bahn zu der Tribüne eilte. Betsy winkte ihm mit dem Taschentuche, daß er zu ihr herankommen möchte. Der Offizier brachte die Nachricht, der Reiter sei unverletzt, aber das Pferd habe sich das Rückgrat gebrochen.
Sobald Anna dies gehört hatte, setzte sie sich schnell wieder hin und verbarg das Gesicht hinter dem Fächer. Alexei Alexandrowitsch sah, daß sie weinte und nicht imstande war, ihre Tränen zurückzuhalten oder das Aufschluchzen zu unterdrücken, unter dem sich ihre Brust hob. Er stellte sich als Deckung vor sie hin und wollte ihr so Zeit geben, die Herrschaft über sich wiederzugewinnen.
»Ich biete Ihnen zum dritten Male meinen Arm an«, sagte er nach einiger Zeit. Anna blickte ihn an und schwankte, was sie ihm erwidern sollte. Aber die Fürstin Betsy kam ihr zu Hilfe.
»Nein, Alexei Alexandrowitsch, ich habe Anna hergebracht, und ich habe versprochen, sie auch wieder zurückzubringen«, mischte sie sich ein.
»Verzeihen Sie, Fürstin«, versetzte er; er lächelte höflich, blickte ihr jedoch fest in die Augen. »Aber ich sehe, daß Anna nicht ganz wohl ist, und möchte daher,