»Wie kannst du …« Er konnte nicht weitersprechen. Sie hatte das so gesagt, als wäre es etwas Normales, als wäre nichts dabei, wenn ein Mensch getötet wurde. »Sie ist tot! Tot! Und ich …« Er sprang auf und starrte sie an. »Ich will wissen …«
Sie erhob sich und drückte ihn auf den Stuhl. »Sei doch still, ich erkläre dir ja alles, soweit ich kann.«
Aber wie konnte er still sein, wenn es in ihm schrie?
21. Allegra – bei Camden – 08.07.2145
Sie hatte das Kaff zu Fuß verlassen und danach zugesehen, dass sie sich parallel zu dem von ihrem UniCom vorgegebenen Weg hielt, am Highway entlang. Zumindest so lange, bis der UniCom sich vollständig entladen hatte.
Und natürlich gab es weit und breit keine Ladevorrichtung, gegen die sie das Gerät halten konnte, um wieder an Strom zu kommen.
Allegra grinste sarkastisch. Sie hätte ja ein paar nützliche Dinge aus ihrem Rucksack nehmen können, bevor sie ihn den Angreifern um die Ohren gepfeffert hätte. Jetzt hatte sie nur noch einen UniCom ohne Akku und ihre ID.
Sehr nützlich.
Irgendwo hatte sie gelesen, dass man Tautropfen trinken konnte. Und dass, wenn man lange genug hungrig war, der Bauch aufhörte, zu schmerzen. Aber sie hatte kein funktionierendes Gerät mehr, das sie fragen konnte, wie lange das dauerte.
22. Hendryk Richardson – Atlanta – 08.07.2145
Hendryk war müde und hatte es satt, von seinem Vorgesetzten andauernd zur Mutantenjagd abkommandiert zu werden. Warum immer er? Er wollte lieber Innendienst leisten. Wieso bekam er keinen?
Niemand hasste diese ewigen Nachtschichten mehr als Hendryk Richardson. Vermutlich hasste niemand auf der Welt die ganze Sache mit dem Militär so sehr wie er. Unglücklicherweise war er allerdings der Sohn eines großen Generals – der seinen Sprössling natürlich auf die Militärschule schicken musste.
Hendryk wurde nicht gefragt, er hatte in die väterlichen Fußstapfen zu treten. Dass er aber lediglich dazu taugte, ab und zu eine Siedlung abschaumfrei zu halten, verdross den alten Herrn nicht im Geringsten. Im Gegenteil schmeichelte es ihm, seinen Junior unter dem Kommando des Präsidenten zu wissen.
Wow. Das viel gelobte ›Mutantenvernichtungskorps‹. Genau davon hatte Hendryk immer geträumt. Nicht.
Heute allerdings schien sein Glückstag zu sein. Eine aufgeregte Frau hatte gemeldet, sie wäre abends in die Küche gegangen, um ein Glas Wasser zu trinken. Dabei hätte sie neben dem Zigarettenautomaten gegenüber von ihrem Haus einen Jugendlichen gesehen, der so ähnlich aussah wie der Junge auf dem Fahndungsfoto. Also würde es wenigstens schnell gehen.
Es war ja nicht so, als würden solche Nachrichten nicht mindestens einmal pro Woche bei ihnen eingehen und als könnte die Angabe der Frau nicht auf so ziemlich jeden Teenager passen, der die Sperrstunde etwas ausreizte. Aber die Hoffnung starb zuletzt.
Natürlich musste er jetzt mit seinem Squad dieser Geschichte nachgehen, so unglaubhaft sie ihm auch erschien. Das County war groß. Wenn er der Junge wäre, würde er versuchen, über die Grenze in den nächsten Verwaltungsbereich abzuhauen und nicht ausgerechnet nach Atlanta zu gehen. Das war zu dämlich.
Hendryk wusste genau, dass er für einen Milizsoldaten zu viel dachte, aber er konnte nicht anders. Am liebsten wäre er Philosoph geworden oder irgendetwas in der Richtung. Ethiklehrer erschien ihm momentan besonders verheißungsvoll. Alles, nur keine Knirpse jagen, die zufällig der falschen Rasse angehörten. Anderen Mördern jagte man schließlich auch nicht mit einer paramilitärischen Einheit hinterher.
Ihre Patrouille begann in der Nähe des Zigarettenautomaten, neben dem der Mutant angeblich gesichtet worden war. Sie schritten eilig durch die nächtlich leere Stadt und sahen hin und wieder einen Mann oder eine Frau im Schutz der Dunkelheit durch die Straßen huschen. Hendryk fand es höchst angenehm, dass es heute nicht seine Pflicht war, ihre Papiere zu kontrollieren und sie zu verhaften. Sie alle sahen wesentlich älter aus als der Junge, den er finden sollte. Diese Nacht würden andere Patrouillen sie kontrollieren, nicht seine.
Dennoch war er auf der Hut. Eine alte Frau, die sich beim Anblick der Miliz in einen dunklen Hauseingang drückte, ignorierte er. Ebenso das junge Mädchen mit neonblauem Bob, das so laut Inza Nitty hörte, dass er Loopa Moopa Bling King hätte mitsingen können. Der Junge mit der Rasta-Schirmmütze dagegen …
»Halt! Mutantenpatrouille, Commander Richardson. ID vorzeigen. Sie sind wegen des Übertretens der Sperrstunde verhaftet.«
Mit zitternden Knien reichte der Junge ihm eine Plastikkarte, die Hendryk prompt in den Leseschlitz an seinem Dienst-UniCom einführte. Das Gerät piepste kurz, ehe es deutlich vorzulesen begann: »Echtheit der ID bestätigt. Andrew Gray, geboren am 16. Oktober 2132 in Smyrna, Verwaltungseinheit Georgia, Großraum Nordamerika, gültig bis zum 17. Oktober 2147, wohnhaft in Atlanta, 1.72m groß, rotblond, braune Augen, Rasse homo sapiens sapiens.«
»Er ist es nicht.«
»Nein, nein, ich bin es nicht, ich bitte Sie, lassen Sie mich nach Hause und tun Sie mir nichts!«
»Gray, du hast Glück. Wenn du nur ein paar Jahre älter wärst, hätte ich dich verhaftet. Sergeant Westpoint, Sergeant Tubman …« Hendryk drückte ein paar Knöpfe. »Bringt ihn zu seinen Eltern, Auburn Avenue Nummer fünf. Wenn er noch mal nach Sonnenuntergang draußen erwischt wird, zahlen sie eine fette Strafe, trichtert ihnen das ein.« Er nahm die ID aus dem Gerät und steckte sie Gray zu. Der sah aus, als hätte er eben ein Gespenst gesehen.
Gillian Westpoint packte den Jungen grob am Arm und zerrte ihn zusammen mit Amy Tubman fort.
Um ehrlich zu sein war Hendryk mehr als froh, die zwei Mannweiber nicht mehr bei sich zu haben. Er fand die muskulösen, grimmig dreinschauenden Frauen gruselig.
Langsam aber sicher wurden seine Soldaten jedoch unruhig – es war niemand mehr unterwegs, der ins Raster passte, folglich hatten sie nichts zu tun. Und so wie er sie kannte, konnte sie das auf dumme Gedanken bringen.
Bisher hatten sie auf den Straßen gesucht. Er musste … »Jungs, wir bringen den Wärmescanner zum Einsatz. Der Mutant muss noch in Atlanta sein.«
Die