3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Wagner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783741869433
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Gomez während seiner Duette mit Jeremy Steig. Aber noch nie in ihrer Karriere, die zusammen fast hundert Jahre dauert, haben diese Altmeister des Jazz ein ähnlich schönes Album eingespielt – als hätten sie erst ihre Kräfte bündeln müssen, um solche Ausdruckskraft zu erlangen. Sie loten die lyrischen Tiefen des Jazz aus, versinken in Klänge und Melodien voller impressionistischer Bilder und Gefühle, gleiten in ruhigen Schwüngen dahin und harmonieren so herrlich, dass der Zauber anhält noch lange nach dem Hören – als sei der Geist John Coltranes in sie gefahren.

      Bill Laswell

      „Russian Chants PARASTAS” (1997)

      Wahrscheinlich ist Bill Laswell gar kein einzelner Mensch in einem einzelnen Körper. Eher so etwas wie Dr. Sommer bei Bravo: 50 Leute, für je 30 Probleme einer. Laswell holt den Dub aus dem Reggaeghetto, er popularisiert nordafrikanische Musik (zu hören auf dem „Manifestation“-Sampler), reitet auf dem Bass durch sämtliche Welten der Weltmusik, entwirft dunkle, urbane Visionen von Funk, Rap und Ambient. Das ist eigentlich zu viel für einen allein und doch noch nicht alles. Neuerdings nämlich überzieht er russische Liturgien mit einem hauchdünnen New Yorker Plastikfilm und nennt das Remix. Laswell ist ein Phantom, ein Überall-und-nirgends. Er nimmt Klänge auf, ohne ihnen kulturhistorisch auf den Grund zu gehen. Das funktioniert – sogar auch mit russischer Liturgie.

      Björk

      „Homogenic” (1997)

      Frau Gudmundsdottir aus Island mag den Pop nicht mehr. Ihr freier Stil bezieht sich nur noch vage auf dessen Muster, ihr Gesang mäandert künstlich und künstlerisch durch verzwickte Songs, was ihre görenhafte Ausdruckskraft nicht behindert. Grooves gibt’s wenig, dafür viele Quantensprünge in Rhythmik und Melodie, gestaltet mit Elektronik, Breakbeats und dunkelgrauen Streichern. Und alles wogt wie schwere, dramatische Atemzüge. Keine hitträchtigen Verschmitztheiten mehr á la „Venus as a Boy“, sondern kleine und große Kunststücke einer kleinen Frau aus einem kleinen Land, die zu den ganz Großen zählt.

      Bob Dylan

      „Time out of Mind” (1997)

      Der stream of consciousness fließt durch diesen ruhelosen Geist ohne UnterLass. Und His Bobness zweigte davon ab, was mit Liebe und Seelenheil zu tun hatte, und als er es sich anschaute, waren 73 Minuten zusammengeflossen. Und er ging zu Daniel Lanois, auf dass der Kanadier ihm einen dunklen Klang schneidere, seine Stimme schier jenseitig verhalle und ihm einen geisterhaften Rhythm’n’Blues stricke – angemessen für einen, der Frieden sucht und doch beinah die Suche nicht hätte beenden können; und jetzt, nach der Todesnähe, will Dylan nur noch eins: „Tryin’ to get to heaven/before they close the door“. Die Tiefe der Arrangements und Augie Myers zwischen sakral und intim vibrierender Orgel gibt den Versen viel Raum. Die von „Highlands“ laufen gleich über mehr als 16 Minuten: ein episches Monument, das mit hart gezupfter Akustikgitarre beginnt wie ein Lightnin’-Hopkins-Song, dann lossegelt im dynamiklosen Bluestakt, um irgendwann anzulanden nahe der „Desolation Row“, die Dylan bereits Mitte der 60er verlassen hatte. „Want nothing from anyone/have nothing to take“, singt er, „wouldn’t be a difference/between a real blonde and a fake“ – Dylan meißelt noch immer Weisheiten, die bisweilen zu Klischees werden; doch wenn er sie singt, sind sie nichts weniger als das. Seine neuen Texte haben eine melancholische, rührende Gelassenheit, es sind Rückschauen, Resümees, er ist ein alter zufriedener Köter, der sich in seine Hütte legt und die Welt betrachtet. Und er wird sie nie mehr verlassen.

      Chumbawamba

      „Tubthumper” (1997)

      Richtige Anarchos lassen sich von keiner Machtverteilung irritieren. Wer nun gerade herrscht, ob Jacko oder Prodigy: egal. Anarchos spielen ihren Stiefel – und vor allem mit den Machtinstrumenten der anderen, um sie fröhlich zu demontieren. Der letzte, der das konnte, war Frank Zappa. Chumbawamba können das auch. Ihr politisches Engagement ist vehement und ihr „Pop“ ätzend wie der Humor von Monty Python’s – und bei aller quirligen Verschrobenheit so leicht und sämig, dass die Single „Tubthumping“ gar zum Hit werden könnte. Ob alle Käufer raffen, was sie sich da einhandeln, ist Chumbawamba pimpe. Anarchos eben.

      Clint Bradley

      „This Hour” (1997)

      Welch ein Schmelz, welch ein Schmalz! Der Crooner Clint Bradley hat sich noch nicht entschieden, in welches Image er inkarnieren will: in das von Dean Martin oder jenes von Chris Isaak. Wie er schreiben will, weiß er aber schon: à la Brontë. Bradley, aufgewachsen in Southampton und weltweit auftrittgeschult in Schmuddelclubs, ist ein lebender Anachronismus. Sein Herz hängt an den 50ern, und sein Bedauern darüber, zu spät geboren zu sein, wandelt er in göttliche Schnulzen – mit Twangs unterlegt von Ian Durys alter Band, den Blockheads. „This Hour“ ist ein Album, das dich entweder ekelt oder dazu bringt, dem liebsten Menschen tote Blumen zu schenken. Such’s dir aus.

      Count Basic

      „Moving in the right Direction” (1997)

      Wenn du denkst, es jazzt nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her – besser: ein 100-Watt-Discobeamer. Dieses Album, eine neugekoppelte und teils remixte Fassung der 96er-Erfolgs-CD, hilft dem Acidjazz mitten auf die Tanzfläche. Nicht nur dass Kelli Sae als Soulpopsängerin jedem Mann die Hose flattern lässt; diese Scheibe groovt derart schweißtreibend und dabei elegant durch die Nacht, dass es einem den Atem verschlägt. Dieter Kollbecks Keyboardperlen hüpfen glitzernd durch den dichten Clubsound, für den der Songschreiber und Gibson-Gitarrist Peter Legat verantwortlich ist. Er hat beste Kontakte zu Talkin’-Loud-Leuten wie Galliano, aber auch zu den Wiener Mischmeistern Kruder & Dorfmeister, die denn auch prompt einen Remix hinlegen. Hinreißend.

      Dan

      „Come when you wanna” (1997)

      „I’m Dan“, röhrt sie selbstbewusst gleich im ersten Stück. Beim Support für Westernhagen war sie unlängst noch ein wenig verkrampft. Klar: Das rockröhrende Kücken aus Berlin hatte bis dahin nur in kleinen Clubs gespielt. Jetzt, mit Majordeal im Rücken, liegt die Messlatte höher, der Wind weht rauer. Doch Dan hält dem eben ein raues, schneidend scharfes Rockalbum entgegen, dem der Produzent Frank Becking trotz zweijähriger Studiozeit genügend Kanten ließ – der bekannte Alanis-Effekt. Und sogar Bowies Uralthit „Starman“ hat in Dans Version genügend Schneid, um als Single einzuschlagen. Wer weiß, was dann geschehen wird.

      Darmstaedter

      „Cassity” (1997)

      Werden auch jetzt wieder alle schwärmen von seinem internationalen Format, von der raffinierten Gelecktheit seines Gitarrenpops auf hauchdünner Soulfolie? Also so wie damals, als der in New Jersey aufgewachsene Deutsch-Amerikaner noch Sänger der Jeremy Days war – und die Sensation nicht das gute Album war, sondern dass so was Tolles wirklich aus Deutschland kommen konnte. Dirk Darmstaedters brand new toy von 1997 heißt „Cassity“ und umfasst zwölf melodische, raffiniert geleckte Popsongs von internationalem Format. „Hard to be gentle“ ist jedenfalls nicht der einzige Song, den man nur schwer wieder aus dem Ohr kriegt, obwohl er nicht aus London kommt.

      David Bowie

      „Earthling” (1997)

      In diesem randvollen Soundbottich ist Bowies nicht verfremdungsfrei abgemischte Stimme oft am Rande des Ertrinkens. Das Popchamäleon will verbissen wieder den Kontakt zum jungen Publikum; daher die peitschenden D&B-Beats, die elektronische Modernität. Werbetaktik eines 50-Jährigen, der den Aktionären signalisieren will, dass er weiß, was Shareholdervalue bedeutet? In „Telling Lies“ jedenfalls scheint sie wieder auf, des Thin White Dukes alte Begabung, Momente des Dramas und Erbebens zu zelebrieren – so wie einst in „Heroes“. Der wurde zum wahrscheinlich besten Popsong der Welt, weil er es schaffte, ganz und