Shell
„Out of Time” (1996)
Natürlich will keine Band in Schubladen landen, und jede hat den Rock neu erfunden, schon klar. Shell aus Ostwestfalen aber sind derart epigonal, dass man sie, um werten zu können, zwangsläufig an ihren Vorbildern messen muss – an Pavement oder den Lemonheads. Ihr Gitarrenrock ist genauso schlampert, schludrig, verstimmt und verschrammelt. Und wäre da nicht die träge deutsche Zunge, die kraftlos am geschliffenen Englisch scheitert (besonders bei „Inside“), unsere Wühlmäuse im Garagenschmutz erstünden vorm geistigen Auge als kalifornische Schlabberjeansträger mit Fetthaaren. Also rein mit ihnen in die Schublade! Dort aber müssen die Vorbilder mindestens mal kurz aufpassen – denn einen schunkligen Ohrwurm wie „Dinosaur“ müssen auch die erst mal hinkriegen.
Snoop Doggy Dogg
„The Doggfather” (1996)
Dass man Kunst und Leben nicht in eins setzen kann, gilt für den HipHop weniger als für andere Genres; Snoop Doggy Dogg und 2Pac sind dafür die denkbar besten Beispiele, im Schlechten natürlich. Snoop Doggy Dogg schaltet seinem zweiten Album Ausschnitte aus einem Prozess vor, der gegen ihn wegen Mordverdachts geführt wurde. Nun, wieder frei, kommt er zu zwei Schlüssen: Gangstarap ist nicht tot. Und: Ich bin der Doggfather, der Pate des Rap. Jedenfalls der König des G-Funk. Seine Arrangements sind fein zusammengefügt aus Klangstakkati zwischen Samplebeats und Flötenpartikeln, seine Raps und Melodien sind unterkühlt und weich – ein Hitalbum mit Ansage. Vielleicht schafft Snoop wirklich, was er sich vornahm: der erste Rapper in der Rock’n’Roll Hall of Fame zu werden. Nicht so 2Pac – einer, bei dem sich Kunst und Leben so verknoteten, dass er am Ende tot war. Unter dem Pseudonym „Makaveli“ spielte er die letzten, großartigen Aufnahmen ein. Das Album wird durchpeitscht von Schüssen – realen oder erzählten – und 2Pacs atemlosen Sprechsalven; darunter schleift oft eine ferne, tragische Tonspur, manchmal orgelähnlich, manchmal verloren wie eine einsame Trompete beim Kehraus, manchmal als tropfender Kirchenglockenklang. Und auf dem Cover prangt kein Pate, sondern ein schwarzer Christus am Kreuz. Allmacht und Ohnmacht trennen manchmal nur ein paar Gramm Blei.
Snowy White
„Goldtop – Groups & Sessions” (1996)
Jeder kennt den Ton seiner 1957 gebauten Les Paul Goldtop, doch nur wenige seinen Namen. Der britische Gitarrist Snowy White veredelt seit 20 Jahren die Musik anderer, hatte selbst nur einen Hit: „Bird of Paradise“ (1983). 19 Songs lang erfährt jetzt jeder Laie, wem er manches Ohrenglück, das er bisher Pink Floyd oder Thin Lizzy zuschrieb, wirklich verdankt. Ein Sampler mit Fundstücken und Outtakes, darunter auch Floyds „Pigs on the Wing“, das 1977 (leider) ohne Snowys Solo erschien. Und manches Stück zeigt auch, warum dann doch eine andere Version aufs Album kam: Peter Greens „Slabo Day“ und „In the Skies“ haben hier noch nicht den letzten Schliff. Klanglich oft mäßig, historisch ein Juwel.
Social Distortion
„White Light White Heat White Trash” (1996)
Ihr letztes Album hieß, 1992, „Somewhere between Heaven and Hell“. Doch die Band aus Los Angeles, die schon seit 1983 Platten aufnimmt, war zur falschen Zeit am richtigen Ort. Denn ihr wunderbar knackiger Punkabilly kam ein Jahr vor Green Day, ein Jahr vorm Punkboom also – und damit zu früh. Ausgerechnet jetzt, ein Jahr nach Ende des Punkbooms, legen sie nach – Mensch, Jungs, ihr habt eindeutig den falschen Manager! Sonst machen sie alles richtig. Ihre simple Lautstärke, ihre Gebete an die Götter der Riffs, ihre Glorifizierung der Dreiminutengrenze, ihr ergiebiges Melodienschürfen im Drei-Akkorde-Kosmos und der Furor von Sänger Mike Ness: Das ist hinreißend. Und wahrscheinlich wieder vergebens.
Spoon
„Cut the crap” (1996)
Stuttgart ist nicht nur Pur oder Fool’s Garden. Manche Schwabenband müsste, wäre Gerechtigkeit eine statistische Methode, erfolgreicher sein. Spoon zum Beispiel. Selten eine deutsche Band mit so ausgefeilten Songwriterqualitäten gehört, selten solch zwingenden Tonfolgen begegnet, so intelligenten Gitarrenpoparrangements zu Refrains, die sich, was immer man nebenher zu tun versucht, ins Bewusstsein schleichen. So gut sind sie, so mitgerissen von sich selbst, dass sie manchmal schier zittern vor Bangnis: Kriegen wir auch alle Ideen unter, die uns überfluten? „Trainsong“ etwa startet mit einem Iggy-Pop-Riff, ehe der Song zum galoppierenden Beatpop wird und am Ende psychedelisch verebbt. Das Dylan-Cover „Mr. Tambourine Man“ ist, bei der Fülle eigener Juwelen, völlig überflüssig. Wer das Talent dieser Jungs kanalisiert, verantwortet die nächste Schwabenoffensive. Des isch g’wiss.
Steve Earle
„I feel alright” (1996)
Vielleicht ist Earle jetzt so nah bei sich selber, weil er zu lange neben sich stand. Man glaubt dem Exjunkie alles, sogar wenn er „I feel alright“ singt. Sein Countryrock ist wie ausgemergelt: kein Hall, kein Schnörkel. Kunst und Künstler sind eins, denn Earle hat viel durchgemacht. Nach der Akustik-CD von 1995, die zum Bewegendsten seit Neil Youngs „Tonight’s the Night“ gehörte, hat er die Straßenseite gewechselt. Hier scheint die Sonne, doch Earle erinnert sich natürlich nur an die Schatten. Bei ihm klingt sogar die Akustische knorrig wie das Leben selbst. „Wenn die Welt untergeht“, sagt Earle, „werden drei Dinge übrig bleiben: die Kakerlaken, Keith Richards und ich.“ Nicht die schlechteste Gesellschaft.
The Connells
„Weird Food & Devastation” (1996)
„Ring“ war soft, und zu Recht wurde die zuckersüße Hymne „74-75“ zum Welthit. Als dann der Gitarrist George Huntley auf seinem mäßigen Soloalbum den Folkteddy gab, schien klar, wohin die Connells-Reise geht: zu einer Art R.E.M. für Weichgespülte. Irrtum – Kehrtwende. Das neue Album ist „pretty rough“, so heißt auch ein Song. Der Sänger Doug MacMillan muss damit leben, dass der Produzent bratzende Gitarren lieber mag als sein Organ. So krächzen die Saiten vorn, und Doug müht sich in der Tiefe des Raums, irgendwie mitzuhalten. Drum wurde diesmal keine Ballade zur Single, sondern ein knackigkurzer Rocker: der Zweieinhalbminüter „Maybe“.
The Holograms
„Thank you whatever comes” (1996)
Fran Lucci aus Philadelphia hat eine schöne Countrystimme und schauspielerte schon mit Julia Roberts und Dennis Quaid. Danny Powers zupfte für Joe Walsh, der Drummer Mickey Barker prügelte sich durch 17 Magnum-Alben, Paul Morris war Tastenmann bei Rainbow, Jimi Klimsop ist Scäm-Luiz-Bassist. Ein seltsamer Mix an Muckern. Doch er führt zu betörendem Mainstreamrock im besten Schwedenstil. Für Songs wie „Someday“ oder „What’s wrong with this Picture“ hätten die meisten Roxette-Adepten ihr letztes Antischuppenshampoo hergegeben. Und Sie, so viel ist sicher, werden bald 35 Mark für dieses Debütalbum hergeben.
The Rolling Stones
„Rock and Roll Circus” (1996)
Im Dezember 1968 luden die Stones Freunde – darunter Marianne Faithfull, The Who oder Taj Mahal – ins TV-Studio, um dort ein circensisches Spektakel mit Rock’n’Roll loszutreten. Mick Jagger gab den Impresario, legte mit Band aber auch einen Sixpack hin, mit dem die Stones später nicht zufrieden gewesen sein sollen, was heute – vor allem dank einer achtminütigen, perkussiv überdrehten Voodooversion von „Sympathy for the Devil“ – ein tiefes Rätsel ist. Einmalig zudem der Auftritt von The Dirty Mac. Nie gehört? Nun, die Gruppe bestand aus John Lennon, Eric Clapton, Keith Richards und Hendrix-Drummer Mitch Mitchell … Ein faszinierender Blick durch die Zeitlupe ins Herz des Swinging London, klanglich klasse und vorbildlich ausgestattet.
Tortoise