Doch dann fiel der Blick von Professor O’Hara auf Samiras Porträt, das Jack am Abend zuvor vergessen hatte, in die angestammte Schublade zurückzulegen.
„Sie malen auch Porträts? Das hat mir Rosanna überhaupt nicht gesagt. Wer ist das auf diesem absolut hervorragend gezeichneten Gemälde? Ich würde es Ihnen nämlich gerne für meine Privatsammlung abkaufen, so fantastisch, wie es ausgearbeitet ist. Und spätestens, wenn ich das Bild in eine Ausstellung gebe, muss man ja wissen, wen es darstellt.“
„Wer das ist, geht Sie nichts an, Herr Professor. Und außerdem ist dieses Porträt unverkäuflich. Eigentlich liegt es nur aus Zufall hier offen herum“, erwiderte Jack ein wenig ärgerlich, während er Tante Rosi kurz einen zornblitzenden Blick zuwarf, den der Professor dennoch bemerkte.
„Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten, Jack, bitte entschuldigen Sie. Mich hat dieses faszinierende Bild einfach nur überwältigt.
Und nur deshalb hab’ ich so unverblümt gefragt. Aber es würde mich sehr freuen, wenn ich noch einmal wiederkommen dürfte. Solche Talente, wie Sie treffe ich nicht an jedem Tag – soviel müssen Sie mir als erfahrenem Kunstexperten schon glauben.“
Es dauerte anschließend noch etliche Tage, bis Jack dem guten Rat des freundlichen Kunstprofessors unter dem ständigen Zureden von Rosanna MacDermott folgte, und sich mehr Zeit für die Fertigstellung seiner noch nicht beendeten Bilder nahm, ohne jedoch dabei die schriftstellerische Arbeit an seinem neuen Roman zu vernachlässigen.
Nur, wenn es mit seinem bereits im Irak begonnenen und jetzt bereits zu zwei Dritteln fertiggeschriebenen Roman nicht so richtig weiterging, saß Jack am teilweise bewaldeten Strand, um den beginnenden Indian Summer und die sich dort bietenden Ansichten von Wäldern und Meer sowie die herrlichen Sonnenuntergänge an der Atlantikküste farbenfroh mit Ölkreide und Pinsel festzuhalten.
Seine Nachbarin Rosanna MacDermott, und hin und wieder auch ihr Ehemann George meldeten sich unterdessen immer wieder zu den von Rosi als dringenden Hilfseinsatz titulierten Besuchen, um den Fortgang seiner schöpferischen Tätigkeit zu fördern.
Dabei wurden die beiden auch nicht müde, die Bitte von Professor O’Hara immer wieder neu anzusprechen.
Erst als dem darüber stets lächelnden Jack das Gezerre ein wenig zu viel wurde, ließ er sich schließlich breitschlagen und schickte zwölf seiner Gemälde in die Kunstakademie des Professors nach Halifax, wo sie zur Freude und mit der fachkundigen Hilfe von Professor O’Hara schon bald in einer Vernissage fachkundigem Publikum vorgestellt werden sollten.
Kapitel 4 Begegnung am Strand
Anfang September war das Wetter an der kanadischen Küste von Ostneuschottland noch immer unverhofft schön, wenn auch bereits ein wenig windiger, als noch im August.
Jack nutzte die sonnigen Tage nach wie vor zu ausgedehnten Spaziergängen, oder er setzte sich in seinen Mercedes GLS und erkundete die Gegend entlang der Küstenstraße. Dabei hatte er stets seine Malutensilien dabei. Und ganz allmählich wurden seine nächtlichen Albträume in den letzten Wochen immer weniger.
„Es geht langsam voran“, dachte Jack, als er an diesem schönen Herbstmorgen mit seiner mobilen Staffelei auf einen Parkplatz am Atlantic View Trail fuhr und aus seinem Auto ausstieg.
Seine Staffelei stellte er diesmal oberhalb des Strandwegs auf, um das ungewöhnlich klare Licht der Morgensonne über der Küste sowie die vom stürmischen Wind schaumbedeckten Wellen, die geschäftigen Fischerboote und die zahlreich über der Küste schwebenden Seevögel einzufangen.
Tief in seine Malerei versunken, wurde er nach einer Weile plötzlich unerwartet von hinten angesprochen und zugleich an seiner Jacke gezupft.
„Hey Mister – was malst du da?“, fragte das bildhübsche kleine Mädchen, das da auf einmal nahezu lautlos hinter ihn getreten war und seine noch unfertige Zeichnung interessiert betrachtete.
„Ich male das Licht über den Wellen. Im Indian Summer, wenn sich die Bäume so schön gelborange und rot färben, sind das Licht und die Farben nämlich besonders intensiv, weißt du“, antwortete Jack Bishop leise.
„Ich heiße Jack – und wer bist du? Bist du etwa deinen Eltern weggelaufen?“
„Ich bin Elli – und so leuchtende Farben hab’ ich noch nie gesehen. Das Bild, das du da gerade malst, finde ich nämlich sehr schön“, antwortete die Kleine bei einem genaueren Blick auf das fast fertige Aquarell.
„Du bist wohl eine Kennerin, Elli. Freut mich dich kennenzulernen. Willst du es selbst mal versuchen?“, fragte Jack Bishop, während er seine kleine Besucherin ausgiebig musterte.
Wobei er – trotz ihrer abgetragenen einfachen Bekleidung – vor allem ihren dunklen Teint, ihre schulterlangen, zu zwei Zöpfen geflochtenen, dichten schwarzen Haare und die auffälligen smaragdgrünen Augen bewunderte, die ihm jetzt begeistert entgegenstrahlten.
„Darf ich wirklich?“, fragte Elli noch einmal zur Sicherheit.
„Na klar, hier hast du ein neues Malpapier und da sind Farbkreiden“, erwiderte Jack, während er ein neues Blatt in den tiefer gestellten Rahmen seiner Staffelei einspannte und den Klappstuhl für Elli räumte.
Elli begann sofort mit geübten Strichen, die Landschaft vor ihren Augen zu Papier zu bringen, wobei Jack völlig überrascht zusah, über wieviel malerisches Talent die Kleine offenbar verfügte.
„Das machst du nicht zum ersten Mal – oder? Sehr gut, deine Malweise, würde ich mal sagen. Wer hat dir denn beigebracht, so toll zu malen?“, fragte Jack seinen kleinen Gast, der jetzt schon fast eine Viertelstunde mit einer farbenfrohen Skizze der Küstenlandschaft beschäftigt war.
Doch noch ehe Elli ihm antworten konnte, kam von der Straße her eine junge Frau aufgeregt herbeigerannt, der man sofort ansah, dass es sich bei ihr um die Mutter des Kindes handeln musste. Die Ähnlichkeit der beiden war einfach zu frappierend.
Jack Bishop war vom ersten Augenblick an von der zierlichen jungen Frau fasziniert, obwohl auch sie ein offenbar schon oft gewaschenes Kleid und nur eine abgetragene Windjacke anhatte. Wie eine Touristin wirkte sie auf ihn jedenfalls nicht.
„Selbst, wenn man diese schlanke exotische Schönheit in einen Kartoffelsack stecken würde, wäre sie nicht zu übersehen. Das scharfe Profil, der bronzefarbene Teint und die schrägstehenden Augen deuten, genauso, wie bei ihrer Tochter, auf indianische Wurzeln hin.
Auch wenn ich die Sorge, die da gerade aus ihren mandelförmigen grünen Augen hervorblitzt, deutlich sehen kann und sie Elli wohl am liebsten ausschimpfen würde, liebt sie ihre Tochter anscheinend über alles“, dachte Jack, als Ellis Mutter auch schon loslegte:
„Elizabeth Mary Ann Baxter, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht einfach weglaufen sollst. Ich hab’ dich jetzt schon fast eine halbe Stunde lang gesucht. So, und jetzt lass’ bitte den Mann in Ruhe und stör’ ihn nicht weiter bei seiner Arbeit.“
„Oh, Elli hat mich gar nicht gestört“, sagte Jack jetzt sofort, wobei er sich einen belustigenden Blick ins bronzefarbene Antlitz der schönen jungen Frau nicht verkneifen konnte.
„Ich bin Jack Bishop – und ich hab’ gerne auf Elli aufgepasst – zumal wir ja anscheinend Malerkollegen sind.“
„Entschuldigen Sie mein unhöfliches Benehmen Mr. Bishop. Ich heiße Shania Baxter – danke, dass Sie meinen kleinen Wirbelwind eingefangen haben. Ich war schon sehr in Sorge, als ich gemerkt habe, dass Elli mal wieder ausgebüxt ist.
Wir zwei sind auf dem Weg zu unseren Verwandten von der Wagmatcook First Nation am Bras d’Or Lake auf der Nordinsel. Anscheinend haben wir uns aber komplett verfahren.
Und zu allem Überfluss hatten wir vorhin auch noch eine Panne. Unser Auto steht ein Stück die Straße runter – und ich schaff’s einfach nicht alleine, den geplatzten Reifen zu wechseln.
Meiner Elli war das