Die 65-jährige Rosi, die Jack mit sanfter Gewalt dazu gezwungen hatte, sie künftig nur noch mit ‚Tante Rosi’ – und nicht mehr, so wie in seiner Collegezeit, mit Mrs. MacDermott anzureden, hatte Jack schon bei der besagten ersten Dinnereinladung verblüfft.
Mit ihrer unverkennbar schulmeisterlichen Art hatte sie nämlich, nach einem überschwänglichen Dank für das von Jack mitgebrachte Geschenk gesagt, dass sie das von ihm vor rund 12 Jahren gemalte Bild einem Kunstexperten zur Begutachtung vorlegen würde. Als Jack widersprechen wollte, gab sie ihm deshalb sofort Kontra.
„Jack, ich freue mich so sehr über dieses wundervolle Präsent. Ich werde es auch behalten, keine Angst. Aber da du es mir schließlich geschenkt hast, darf ich damit auch machen, was ich will!“, hatte sie gerufen, als Jack Bishop sie im selben Moment zwar erfreut aber auch ein wenig zweifelnd angeschaut hatte.
„Dein Experte wird aus dem Lachen gar nicht mehr herauskommen, wenn er dieses laienhafte Elaborat zu Gesicht bekommt“, hatte Jack geantwortet. „Aber von mir aus, gerne. Sei aber bitte nicht überrascht, wenn er mich anschließend nicht zum neuen kanadischen Picasso ernennt.“
Allmählich begann sich Jacks Leben nach diesem ersten Abend im sommerlichen Neuschottland deutlich zu verändern.
Tagsüber folgte er einem selbst auferlegten Zeitplan und schrieb nach dem Frühstück meist nicht länger als vier Stunden am Stück an seinem aktuellen Roman.
Nach dem mittäglichen Lunch ging er bei jedem Wetter anschließend stets mindestens drei Stunden am wellenumtosten Strand entlang des Atlantic View Trails spazieren.
Oder er folgte am östlichen Ende des Strands dem schmalen Geröllpfad, wo er sich das ein oder andere Mal unter die überhängenden Klippen setzte, um sich von dort aus die faszinierende Gewalt der an die Küste brandenden Atlantikwellen anzusehen.
Da sich Jack Bishop schon von Anfang an entschlossen hatte, wieder mit dem Malen anzufangen, war er bereits zum Monatsbeginn in die nicht weit entfernte Großstadt Halifax gefahren, um sich dort eine professionelle Ausrüstung für malende Künstler zu besorgen.
Mit diesem Handwerkszeug, zu dem vor allem auch eine transportable Staffelei in einem Holzkoffer gehörte, saß er jetzt immer öfter auf einem Klappstuhl in der Schotterauffahrt vor seinem, von herbstlichen Blüten geschmückten Garten oder er nahm seine Malwerkzeuge auf seine nachmittäglichen Streifzüge oberhalb und unterhalb der Klippen mit.
Und wenn es mit seinem zu zwei Dritteln geschriebenen neuen Roman einmal nicht so richtig weiterging, saß Jack auch vormittags vor seinem Garten, um den Spätsommer und die sich dort bietenden Farben und die nahen Ansichten der Atlantikküste mit Kreide und Pinsel festzuhalten.
Als Jack Bishop mit dem Malen angefangen hatte, hatte er jedoch zunächst nur sein Cottage in rohen Kohleskizzen aus allen Himmelsrichtungen zu Papier gebracht und anschließend mit sanften Acrylfarben auf Leinwand gebannt.
Doch um seine Vergangenheit, vor allem, um seine zeitweise immer noch präsenten nächtlichen Alpträume zu bewältigen, war Jack Bishop des Öfteren nachts aufgestanden und hatte das, was ihm seine verletzte Seele vorgab – zuerst als rohe Skizze – und dann in beeindruckender Weise in lebendigen Acrylfarben auf Leinwand gemalt.
Herausgekommen war das fast wie eine Fotografie wirkende Abbild der jungen und überaus traurig blickenden Samira, der er damals im Irak nicht hatte helfen können und für die er auf diese Weise ein Stück ewigen Gedenkens erschaffen wollte.
Allerdings verbarg Jack das überaus gelungene Gemälde der jungen Jesidin stets in einem Sekretär seines Ateliers. Gleichwohl kam er aber nicht umhin, das anrührende Bildnis seit dessen Fertigstellung fast jede Nacht stundenlang und gedankenverloren vor dem Zubettgehen zu betrachten.
„Warum hast du das nur gemacht, Samira. Ich wollte dir doch wirklich nur helfen – hast du das denn nicht gemerkt?“, hatte er mehr als einmal zu dem Porträt der jungen Frau gesagt. Nur eine Antwort darauf, hatte er nie – und würde er natürlich auch in Zukunft niemals erhalten.
Als Jack Ende August gerade dabei war, in seinem Klappstuhl die herbstliche Blumenwiese seines Gartens in farbenfrohen Tönen zu zeichnen, war er von Tante Rosi und einem ihm unbekannten Mann gleichsam überfallen worden.
„Jack, das ist Professor Richard O’Hara“, hatte Rosanna MacDermott ihren distinguiert wirkenden und gut gekleideten Begleiter vorgestellt.
„Und dieser Kerl da ist der Sohn meiner besten Freundin Bridget, Dr. Jack Bishop. Seinen eigentlichen Beruf als Arzt und Psychologe bei der Armee hat er inzwischen an den Nagel gehängt.
Seit er aus dem Irak zurück ist, schreibt er nämlich jetzt hauptberuflich Kriminalromane. Darin kennt er sich gut aus, weil er ja in den zwei Jahren vor seiner Tätigkeit als Berater unserer Streitkräfte zusammen mit meinem Mann als Profiler für die RCMP in Halifax gearbeitet hat.
Aber hin und wieder malt er sich jetzt auch die in seinem militärischen Vorleben verwundete Seele aus dem Leib. Ein noch früheres Beispiel seines Schaffens aus seiner Jugendzeit hab’ ich Ihnen ja schon gezeigt.“
„Und das, was ich da begutachten durfte, war ein sehr vielversprechendes Werk, Dr. Bishop. Ich wünschte mir sehr, dass all meine Schüler so beeindruckend malen könnten, wie Sie.
Da mir meine Freundin Rosanna gesagt hat, dass Sie ihrem Hobby inzwischen wieder mehr Zeit widmen, wäre ich sehr froh, wenn Sie mir heute einen Blick auf Ihre neueren Bilder gestatten würden.“
„Tante Rosanna, das solltest du doch nicht tun“, erwiderte Jack mit einem entnervten Aufseufzen – kaum das der Professor geendet hatte – noch im selben Augenblick.
„Professor O’Hara, ich bin wirklich nicht mehr, als ein Hobbymaler. Im derzeitigen Hauptberuf bin ich nämlich, wie Tante Rosi schon erwähnt hat, in erster Linie Schriftsteller – und der Job ernährt seinen Mann in ausreichender Weise, glauben Sie mir. Die Malerei ist für mich deshalb wirklich nur eine Liebhaberei, und nicht mehr“, sagte Jack Bishop in Richtung des Professors.
„Na, wenn das so ist, dann muss ich wohl den für ihr Jugendbild verliehenen Preis der Kunstakademie Halifax wieder mitnehmen“, grinste Professor O’Hara, während er demonstrativ seinen teuren Burberrymantel auszog und sich auf die von Rosis Mann George aufgearbeitete, und deshalb gut gepolsterte Gartencouch niederließ.
„Ein klein wenig unbequem für meine langen Beine, aber ich kenne solch extravagante alten Gartenmöbel aus meiner eigenen Umgebung ganz gut“, fing der Professor gleich darauf wieder zu sprechen an, noch ehe Jack Bishop eine entschuldigende Antwort parat hatte.
„Also, Dr. Bishop, wie sieht’s aus? Wären sie so nett, mir trotzdem ein paar Ihrer Werke zu zeigen? Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, wenn sie mir das erlauben würden.
„Also gut Professor, kommen Sie mit – aber ich warne Sie gleich. Mehr als ein paar Dutzend Bilder sind in den letzten Monaten nicht entstanden. Und die meisten davon sind noch nicht einmal fertig.“
Obwohl Jack den Professor gerne möglichst rasch wieder aus seinem Malstudio hinauskomplimentiert hätte, dauerte dessen stille Prüfung seiner Gemälde mehr als eine volle Stunde.
„Das ist vorzüglich, wie sie die Stimmungen und die Landschaft eingefangen haben, Dr. Bishop. Ich bin begeistert“, sagte Richard O’Hara, als er sich nach der Inaugenscheinnahme etlicher Gemälde endlich zum Verlassen des lichtdurchfluteten Studios aufmachen wollte.
Doch zuvor nahm Professor O’Hara noch ein letztes Mal auf einem bequemen Stuhl des Ateliers Platz, um eine zusammenfassende Bewertung im Beisein von George und Rosi MacDermott abzugeben.
„Dieser Mann malt seine Umgebung einfach mit einem künstlerischen Auge, dass ich so bislang nur selten gesehen habe. Sie sind von der künstlerischen Seite aus gesehen – ein richtiges Wunderkind, Jack – hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?
Ich würde all Ihre Werke, die Sie hier in Ihrem Studio stapeln, gerne einmal in meiner Kunstgalerie ausstellen, sobald sie sich entschließen, auch die neu begonnenen