Er dürfte ein Golden-Retriever-Mischling sein und zugleich ist er ein Findelkind, das mein Mann gestern Nachmittag verlassen in unserer Einfahrt entdeckt hat. Er hätte den kleinen Kerl fast überfahren, als er mit seinem Pickup zum Einkaufen starten wollte.
Scheinbar haben ihn irgendwelche nichtsnutzigen Touristen ausgesetzt, weil sie ihn nicht mehr haben wollten. In unserer Nachbarschaft wird nämlich kein Hund vermisst.“
„Wie grausam – dann geht’s ihm ja fast genauso, wie uns“, murmelte Shania, während sie ihrer Tochter aus glücklichen Augen zusah, wie sie jetzt mit dem kleinen Hund herumbalgte.
„Wie heißt er denn?“, fragte Elli in diesem Moment.
„Tja, wir haben ihn Bucky genannt, weil er nämlich ein Junge ist. Wenn du willst, darfst du dich vorerst um ihn kümmern, und zwar mindestens solange, bis ihr wieder weiterreisen müsst.
Natürlich nur, wenn deine Mutter damit einverstanden ist. Was wir danach mit ihm machen, werden wir sehen, wenn es soweit ist.
Sein Futter und seinen Napf hab’ ich jedenfalls vorsichtshalber schon mal mitgebracht. Und nachher bringe ich dir auch noch seinen Schlafkorb, seine Fellbürste und seine Leine herüber. Damit du morgen auch mal mit ihm spazieren gehen kannst.“
„Mama, bitte, bitte. Erlaubst du, dass ich auf Bucky aufpasse?“, jubelte Elli sogleich, während sie ihre Mutter dabei flehentlich anguckte.
„Wenn es dir so viel Spaß macht, darfst du“, erwiderte Shania Baxter, die jetzt neben ihrer Tochter kniete, um ebenfalls Buckys flauschiges Fell zu streicheln.
„Aber denk’ dran, das ist keine Puppe, sondern ein Lebewesen, das nicht nur zum Spielen da ist. Du musst für ihn bis zu unserer Weiterfahrt Verantwortung übernehmen, ihn füttern und auch mit ihm spazieren gehen.“
„Das mach’ ich, Mama – ganz großes Ehrenwort. Und bürsten und schönmachen werde ich ihn auch.
Außerdem werde ich ihn morgen malen. Damit ich immer an ihn denken kann, wenn wir wieder hier wegmüssen – obwohl ich viel lieber hier bei diesen netten Leuten bleiben würde“, wiederholte Elli erneut, was sie schon etliche Minuten zuvor geäußert hatte.
„Wir werden sehen“, meinte ihre Mutter vorsichtig dazu, als sie merkte, wie sich beim Anblick von Hund und glücklicher Tochter erneut Tränen in ihre Augenwinkel schlichen.
Rosanna, die bei diesen Worten die Hand Shanias ergriffen und vehement gedrückt hatte, sagte in diesem Moment:
„So – wir lassen die zwei jetzt am besten mal für eine Weile allein. Bleibt aber bitte im Garten – im Wald dort hinten ist es für einen so kleinen Welpen nämlich zu gefährlich. Da gibt es nämlich Bären und Wölfe.
Und vor dem Essen nachher wird sich gewaschen, Elli – okay?“
„Okay, Tante Rosi. Das verspreche ich. Ich bin ja schon groß. Aber vorher muss ich dir noch einen Kuss geben, weil du den Bucky mitgebracht hast. Der ist wirklich eine supertolle Überraschung.“
Obwohl es Elli sichtbar schwerfiel, den jungen und springlebendigen Retriever auch nur einen Augenblick lang loszulassen, rannte sie jetzt doch zu Rosanna, um sie ausgiebig mit ihren dünnen Ärmchen zu umarmen.
„Beug’ dich mal runter, damit ich an dich rankomme“, sagte Elli dabei spontan. Gleich darauf umarmte sie Rosanna MacDermott auffallend schnell und gab ihr einen raschen Kuss, um sich gleich danach wieder zügig dem Welpen widmen zu können.
Rosanna, die zusammen mit Shania noch immer das herrliche Bild betrachtete, dass sich ihnen gerade bot, seufzte leise vor sich hin.
„Ein schönes Pärchen die zwei. Aber ich muss jetzt langsam mal in die Küche, damit wir nicht verhungern müssen. Und eben hab’ ich Georges Pickup gehört, der uns die Lebensmittel bringt.
Du kannst dich jetzt frischmachen und mir hernach beim Kochen helfen. Die Männer schicken wir – sobald sie mit euren Zimmern fertig sind – bis zum Abendessen in den Garten, damit Elli dort nicht allzu lange alleine bleiben muss.“
Kapitel 6 Ein gemütlicher Abend
Als das gemeinsame Essen zu Ende ging, war es inzwischen später Nachmittag geworden. Beide Gästezimmer waren in Schuss gebracht, auch wenn sich George und Jack lautstark darüber beschwert hatten, dass Rosi ihre Arbeit noch einmal penibel wie ein Feldwebel kontrolliert hatte.
„Ich würde dir morgen gerne mal die Umgebung zeigen, Shania“, sagte Jack Bishop in diesem Moment hoffnungsvoll, wobei Shania seinen liebevollen Blick bemerkte, dem sie kaum widerstehen konnte, der ihr aber zugleich auch ein wenig Angst einjagte.
„Und wenn du noch nicht allzu müde bist, könnten wir uns nachher noch eine Weile auf die Terrasse setzen und einen Kaffee trinken. Einverstanden?“
„Ja Jack, gerne. Aber vorher bin ich euch wohl noch eine Erklärung schuldig. Ihr habt euch sicher schon gewundert, warum ich auf dem Weg zu meinen Verwandten gerade hier unten auf der Küstenstraße gelandet bin.“
„Allerdings“, meinte George MacDermott spontan. „Denn zum Bras d’Or Lake wäre es doch naheliegender gewesen, von Moncton aus direkt über Amherst, Truro und New Glasgow nach Port Hawkesbury zu fahren. Ich hab’ mich deshalb schon darüber gewundert, warum du hier unten bei uns auf der Küstenstraße gelandet bist.“
„Das hat einen einfachen Grund, George. Ich habe ja in Winnipeg Lehramt mit Schwerpunkt Englisch und Literaturgeschichte studiert. Nur an einer Schule habe ich bisher noch nie gearbeitet, sondern bisher nur meine Tochter unterrichtet.“
„Scheinbar mit Erfolg, wenn man sieht, was für ein Prachtmädel sie geworden ist“, warf Rosi ein, während sie einen zärtlichen Blick auf die schon wieder im Garten mit Bucky herumtollende Elli warf.
„Danke, Rosi. Dein freundliches Urteil bedeutet mir wirklich sehr viel. Was meinen beabsichtigten Job als Lehrerin betrifft, werde ich den so gestalten, dass ich meine Arbeitsstunden an Ellis Schulstunden anpassen kann.
Nur muss ich, um hier in der Provinz Neuschottland unterrichten zu dürfen, jedoch die Zeugnisse von meiner Universität vorlegen. Und die habe ich leider nicht mitnehmen können, als ich ziemlich überstürzt in Winnipeg aufbrach. Bitte fragt mich nicht, warum das so ist, denn darüber möchte ich nicht gerne reden.“
Nach einer kurzen Pause, in der ihre Zuhörer wieder einmal ihren zutiefst gequälten und sorgenvoll wirkenden Blick registrierten, fuhr Shania fort:
„Aber ich weiß ja, dass alle kanadischen Universitäten miteinander elektronisch vernetzt sind. Deshalb war ich gestern in Halifax, um mir an der dortigen Uni meine Abschlusszeugnisse aus Winnipeg per File Transfer zu besorgen und beglaubigen zu lassen.
Das hat auch geklappt, aber auf dem weiteren Weg hab’ ich mich danach wohl in Dartmouth verfahren. Statt auf den Highway 107, bin ich irgendwie auf die Route 207 geraten. Erst als mein Auto seinen Geist aufgab, hab’ ich dann gemerkt, dass ich in Richtung Küste und somit völlig falsch gefahren bin.
Was aber auch sein Gutes hatte. Denn die Panne wäre sicher auch auf der richtigen Route passiert. Nur hätte ich dann nicht so liebe und hilfsbereite Menschen, wie euch kennengelernt.“
„Das ist ein sehr schönes Kompliment für uns alle“, erwiderte Rosi MacDermott sogleich. „Wir freuen uns jedenfalls, dass wir dir ein wenig weiterhelfen können. Das ist hierzulande selbstverständlich und nicht der Rede wert.
Aber das, worüber du momentan nicht reden möchtest, wirst du irgendwann dann, wenn du dazu bereit bist mit jemanden erörtern müssen.
Falls ich dir dazu einen guten Rat geben darf, Shania – Doc Bishop hier ist ein sehr guter Zuhörer – außerdem kann er dir als Arzt und Psychologe professionelle Ratschläge geben.
Und keine Angst – als Profi muss er ja über alles, was du ihm anvertraust, die Klappe halten. Ärztliche Schweigepflicht,