Und ihr Gefolge ist entweder zu dumm oder hat zu wenig Hoffnung, um selber ein vernünftiges Leben zu führen“, hatte er sich nach den Verhören der ziemlich kleinlauten Gefangenen mehr als einmal gesagt.
Nach dem Ende der Afghanistanmission war er zur Freude seiner Ehefrau nach Ottawa und damit zunächst in ein einigermaßen normales Leben zurückgekehrt. Doch im Sommer 2014 musste er im Auftrag seiner Dienststelle in den nächsten Auslandseinsatz.
Seit fast zwei Jahren befand er sich nun in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, wo sich die Kanadier – gemeinsam mit anderen Truppen der Anti-IS2-Koalition – um die Ausbildung der kurdischen Peschmerga, vor allem aber um die Rettung vertriebener und entführter Christen vom Volksstamm der Jesiden bemühten.
Wie schon in den Tagen zuvor, fand Jack Bishop auch in dieser Nacht im Sommer 2016 keinen erholsamen Schlaf. Und es war nicht die Hitze in dem kanadischen Camp des CEFC3 im Nordirak, die ihm zu schaffen machte.
Vor allem die Gespräche mit gehirngewaschenen jesidischen Kindern und Jugendlichen, die der IS zu Selbstmordattentätern hatte ausbilden wollen, hatten ihn an den Rand des mental Erträglichen gebracht.
Und dabei war Jack natürlich rasch klargeworden, dass man nur einen Bruchteil dieser schändlich missbrauchten Kinder rechtzeitig befreit hatte. Wie viele von ihnen noch da draußen waren, um sich als eingeschleuste Flüchtlinge in den Ländern der Anti-IS-Koalition in die Luft zu sprengen, blieb eine Dunkelziffer, die niemand genau benennen konnte.
Doch es gab noch sehr viel Schlimmeres, das Dr. Bishop selbst in Afghanistan in dieser Weise noch niemals begegnet war. Denn die in den letzten Wochen geführten Zeugenbefragungen mit brutal misshandelten und geschändeten Frauen vom kurdischen Volksstamm der Jesiden gingen weit über alles Vorstellbare hinaus.
Die von ihren ‚Besitzern’ wie Tiere behandelten Frauen wirkten auch nach ihrer Befreiung noch immer völlig verstört, weil sie das Erlebte kaum oder gar nicht verdrängen – und noch viel weniger verarbeiten konnten.
Und erst heute Morgen hatte man eines der von ihm am Vortag interviewten Mädchen an einem Bettlaken erhängt in ihrer Unterkunft aufgefunden.
Samira, so hatte die 17-jährige junge Frau geheißen, die von ihren Folterern mehrfach an irakische Geschäftsleute verkauft, auf grausamste Weise immer wieder zusammengeschlagen und vergewaltigt worden war.
Nachdem man ihre Eltern ermordet und sie selbst gefangengenommen hatte, war Samira fast ein Jahr lang in den Händen ihrer Peiniger gewesen. Und die hatten ihr beigebracht, dass sie als Christin in einem islamischen Staat noch ungleich weniger als ein geduldetes Haustier zählte.
„Ich bin schwanger“, hatte sie Jack im letzten Interview unter Tränen gestanden und dabei ihre Scham darüber kaum zu verbergen vermocht.
„Und ich weiß noch nicht mal, wer der Vater meines Kindes ist. Es waren in letzter Zeit einfach zu viele Männer, denen ich im Haus meines ehemaligen Besitzers im Irak für Sklavendienste zu Diensten sein musste.“
Obwohl Jack der jungen Jesidin in diesem letzten Gespräch sofort seine ärztliche Hilfe versprochen und sie sofort als selbstmordgefährdet eingestuft hatte, war es dennoch geschehen.
Denn anscheinend hatte die noch immer von ihrem monatelangen Martyrium an Körper und Seele gezeichnete Samira keinen anderen Ausweg in ein normales Leben mehr gesehen.
Samira, die einstmals bildhübsche – jetzt aber nicht nur im Gesicht völlig entstellte Jugendliche, die ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt hatte, hatte sich in der vergangenen Nacht umgebracht.
„Wahrscheinlich, weil sie mit der Schande nicht länger leben konnte – und weil sie schon gar nicht das Kind eines ihrer Vergewaltiger auf die Welt bringen wollte“, hatte Jack zu seinem Vorgesetzten gesagt.
„Mann, ich hätte das merken und Samira in den Arm nehmen müssen, so verloren, wie sie da gestern vor mir stand. Aber, was hab’ ich Idiot getan? Nicht das Richtige jedenfalls, soviel steht fest.
Ich, der ach so schlaue Doktor der Psychologie, habe kläglich versagt – und zwar nur, weil ich der alten Regel gefolgt bin, nach der man sich nie zu tief in die Probleme seiner Patienten hineinziehen lassen soll“, warf sich Jack Bishop jetzt vor.
„Ich kann das nicht mehr länger machen, keine Sekunde mehr länger“, sagte Jack Bishop am Abend zu sich selbst, während er sich die auf seinem Nachttisch stehende Flasche Bourbon näher betrachtete.
„Und Alkohol ist auch nicht die Lösung, damit ich das alles wieder vergesse“, dachte er, während er die Flasche gleich nach dem Öffnen wieder zuschraubte.
„Morgen ist Feierabend! Nach zwei Jahren Afghanistan und jetzt fast zwei Jahren im Irak, habe ich meinem Land genug gedient!“, rief er dabei bestimmt.
„Außerdem kann ich nicht mehr. Ein Psychologe, der selber anfängt am Posttraumatischen Belastungssyndrom zu leiden, ist nämlich das Allerletzte, was die Leute hier brauchen.“
Wenn Dr. Jack Bishop einmal eine Entscheidung getroffen hatte, zog er diese auch konsequent durch. Schon zu Dienstbeginn des nächsten Tages stand er erneut beim kommandierenden General des kanadischen Einsatzkommandos auf der Matte und reichte seine fristlose Kündigung ein.
„Sie wissen schon, dass Ihnen das zum Nachteil gereichen wird, wenn Sie hier bereits nach der Hälfte Ihrer vertraglich vereinbarten Zeit aussteigen.
Außerdem, daheim in Ottawa werden sie anschließend ebenfalls nicht mehr für unsere Streitkräfte arbeiten können“, hatte der kanadische Brigadegeneral trocken festgestellt.
„Ich bin mir dessen voll bewusst, Herr General. Die daraus resultierenden Konsequenzen habe ich heute Nacht mehr als einmal durchdacht – und keine Angst, ich habe mir meine Entscheidung reiflich überlegt. Aber ich sehe für mich keinen anderen Weg.
Und weiterzumachen, so als wäre gar nichts geschehen, wäre unehrlich – und deshalb findet das auch auf keinen Fall statt“, hatte Jack Bishop geantwortet.
„Als erfahrener Arzt und Psychologe weiß ich nämlich, wann es genug ist. Und für Sie und ihre Leute – aber noch viel schlimmer – für die hier bei uns untergebrachten Schutzbefohlenen und auch für unser Einsatzkommando wäre ich künftig nur noch eine Last, und keine Hilfe mehr.
Außerdem bin ich hier ja nicht der einzige Psychologe. Meine Assistentin Barbara McClusky ist eine sehr erfahrene Kollegin. Sie kennt alle relevanten Fälle und sie wird für Sie genau da weitermachen, wo ich ab morgen aufhöre.
Daher bitte ich Sie eindringlich, mich ziehen zu lassen und meine Kündigung an unser Hauptquartier weiterzuleiten.
Was das Finanzielle angeht, muss sich um mich niemand Sorgen machen. Ich verdiene mit meinen bereits veröffentlichten Büchern inzwischen jeden Monat weit mehr, als das Salär beträgt, dass ich vom kanadischen Staat für diesen Knochenjob bekomme.
Daher ist es nicht meine Zukunft in den kanadischen Streitkräften, oder gar der Verdienst, weshalb ich aufhöre. Es ist die tote Samira, die sich gestern Nacht da draußen in ihrer Unterkunft umgebracht hat, ohne dass ich das verhindern konnte.
Denn ich, und nur ich – wer denn sonst – hätte die Anzeichen für diesen Suizid erkennen und sehr viel vorausschauender handeln müssen.
Und genau das hab’ ich leider nicht in ausreichendem Maße getan. Zumindest nicht so, wie es am Ende des mit ihr zuletzt geführten Gesprächs nötig gewesen wäre. Mit diesem Versagen, Herr General, damit muss ich jetzt wohl für den Rest meines Lebens klarkommen.“
„Also gut, Jack. Ich verstehe Ihre Beweggründe. Da Sie Zivilist sind, kann ich Ihnen auch nicht befehlen, hierzubleiben und weiterzumachen. Aber einen guten Rat von mir sollten Sie dennoch annehmen.
Sie sind nicht schuld, an dem, was gestern Nacht mit Samira passiert ist. Reden Sie sich das bitte nicht ein. Sie sind nämlich