Just in dieser Sekunde musste ich feststellen, dass sie mir nur ein Spiel vorspielte. Vielmehr spielte sie sich selbst eines vor. Indem sie über die Schwangerschaft nur Nachteiliges sagte, verdrängte sie den Wunsch nach dem Kind.
»Jule, wenn du von dem Schwangerschaftsabbruch nicht überzeugt bist, dann bekomme eben das Kind, sonst wird es dich ein Leben lang begleiten. Willst du das?«
Nachdenklich starrte sie in die Ferne und zuckte nur mit den Schultern. Es war ihr nicht egal, sie war nur überfordert.
»Tu mir nur einen Gefallen, ja?«
»Der da wäre?«, murmelte sie.
»Falls du dich für das Kind entscheiden solltest, hör mit der Qualmerei auf, klar?«
4
Das Wochenende stand bevor. Und wie so oft hatte Mama mich dazu abkommandiert, ihr beim Großeinkauf behilflich zu sein. Papa hatte mal wieder keine Zeit, musste Wochenenddienst im Krankenhaus in Hamburg schieben. Zwar hatte sich unser Wohnsitz geändert, jedoch nicht sein Arbeitsplatz. Darum war er kaum daheim. Er sagte, es lohne sich nicht, nur für ein paar Stunden Schlaf nach Hause zu kommen. So konnte es schon mal vorkommen, dass wir ihn zwei Wochen lang gar nicht zu Gesicht bekamen. Mama war darüber nicht so traurig, wie sie meiner Meinung nach sein sollte. Aber vielleicht war das normal in diesem Alter, schließlich waren meine Eltern nun mehr als zwanzig Jahre miteinander verheiratet, da sah man vieles scheinbar nicht mehr ganz so eng.
Der Weg zum Supermarkt führte an meiner Schule vorbei. Ich ahnte, dass Mama daraufhin Fragen stellen würde. Wie zum Beispiel: »Hast du dich in der neuen Schule inzwischen akklimatisiert?«
Es waren bereits vier Wochen seit Schulbeginn vergangen und ich fühlte mich mit jeder neuen Woche immer besser. Vielleicht waren Spießer gar nicht so verkehrt, denn sie ließen einem kaum die Chance, sich dort auf irgendeine Weise unwillkommen zu fühlen. Auch wenn ich kein Interesse daran hatte, mit jedem einzelnen Mitschüler Kontakt zu pflegen (was auch sehr unrealistisch wäre), sich meine Kontakte vielmehr nur auf meine neue Clique beschränkten, war mir das ruhige, friedliche Klima bei Weitem lieber und erleichterte mir das abschließende Schuljahr ungemein.
»Ja«, antwortete ich einsilbig.
»Mehr hast du nicht zu sagen?«
»Doch, aber es ist Wochenende und das möchte ich jetzt auch in vollen Zügen genießen.« Ich musste mich mit dieser Thematik nicht mehr als nötig auseinandersetzen. »Du kannst mich Montag noch mal fragen.«
»Einverstanden.« Sie lenkte das Auto auf einen Parkplatz, der dem Fleischer gegenüber lag. »Ich hole eben frische Rinderrouladen. Warte kurz hier«, weihte sie mich endlich ein, während sie ausstieg. Das voreilige Zuschlagen der Fahrertür verhinderte, dass ich etwas erwidern konnte.
»Bringst du mir eine Wiener Wurst mit?«, murmelte ich mir geknickt in den Bart. »Danke schön, liebe Mama.« Es mochte kindisch erscheinen, aber ich hatte was für Nostalgie übrig. Na ja, und außerdem hing mir der Magen in den Kniekehlen.
Um mir die Wartezeit zu verkürzen, sah ich mich ein bisschen um. Hier herrschte Totenstille, und das zur Feierabendzeit. Aber vielleicht fiel mir genau deshalb das Gerangel zweier Jungen am anderen Ende des Parkplatzes auf.
Ich stieg aus dem Wagen und schaute über das Dach zu ihnen hinüber. Ich hoffte, mir dadurch einen groben Überblick verschaffen zu können. Möglicherweise müsste ich eingreifen.
Erst jetzt, da ich meinen Blick scharfgestellt hatte, erkannte ich Niko. Während er diskutierte, gestikulierte er mit seinen Händen wild vor dem Gesicht des zweiten Streithahns. Und der war kein geringerer als Harro. Ohne eine seiner College-Jacken, die ihm bei diesen tropischen Temperaturen offenbar hin und wieder zu viel des Guten wurden, hatte ich ihn gar nicht sofort als solchen wahrgenommen.
»Pass auf, was du sagst«, brüllte Niko inzwischen so laut, dass auch ich ihn aus der Distanz verstand, und nahm gegenüber Harro eine noch bedrohlichere Haltung ein.
Den schüchterte das nicht ein. Vielmehr fühlte er sich herausgefordert und packte meinen Kumpel fest an den Kragen seines Poloshirts. »Willst du mir den Mund verbieten?«
Niko versetzte ihm einen harten Stoß mit den Fäusten, sodass Harro zwei Schritte zurückstrauchelte und Niko aus seinem Griff verlor. »Das Einzige, was ich will, ist, deine Arroganz aus dir herausprügeln.« So hasserfüllt hatte ich Niko noch nie erlebt. Ich musste träumen!
Dass er kein großer Harro-Fan war, wusste ich ja inzwischen zur Genüge, aber dass er bereit war, Gewalt anzuwenden und sich nun auf ihn stürzte wie ein Kamikaze, hätte ich ihm nicht zugetraut.
Ich knallte die Beifahrertür zu und rannte so schnell wie ich konnte zu ihnen hinüber, um Niko vor Schlimmerem zu bewahren. Von hinten packte ich ihm an die Schulter, wollte ihn zum Gehen animieren, aber er schüttelte mich nur ab und ließ mir einen grimmigen Blick zukommen. Er war so sehr in Rage, dass ihn mein Erscheinen weder erschrak noch verwunderte.
»Niko, er ist es nicht wert«, versuchte ich es nun mit Worten. Ich wusste, dass ich mich damit lächerlich machte.
Diese kurze Ablenkung machte Harro sich zunutze, um Niko einen kräftigen Hieb gegen das Kinn zu versetzen. Und der hatte so gut gesessen, dass Niko sofort bewusstlos zu Boden sank.
»Kacke«, rief ich und schmiss mich zu ihm auf die Knie. Ich schüttelte ihn und klatschte einige Male abwechselnd auf seine Wangen, doch er blieb bewusstlos.
»Bist du dumm, Alter?«, wandte ich mich an Harro.
Vor Verzweiflung geriet ich nun in Rage. Ich fuhr wieder hoch, suchte nach ihm und stürzte mich blindlings und mit Kampfgebrüll auf ihn. Nur dass ich in solchen Dingen nicht gut war. Gar nicht gut! Um nicht zu sagen, dass ich noch nie zuvor jemanden körperlich angegangen war.
Doch das hier war eine ärgerliche Ausnahmesituation. Wer sonst, wenn nicht ich, sollte Rache üben? Es war ja niemand anderes in der Nähe. Aber kaum hatte ich meinen Gedanken dazu ausgeführt, lag auch ich schon am Boden. Seine Faust hatte meine Stirn getroffen. Dagegen waren die Hiebe gegen meine Schultern vordem ein harmloser Witz. Mir wurde kurz schwarz vor den Augen, sogar Sternchen sah ich tanzen.
Zweites hatte ich bisher nur für eine Metapher gehalten, die es Menschen durch ihre bildliche Übertragung erleichterte, einen Zustand zu verstehen. So, wie die zwitschernden Vögel, die um den Kopf einer Zeichentrickfigur flogen, sobald sie mit dem großen Vorschlaghammer eine auf den Deckel bekam. Aber dass sie ganz real waren, das hätte ich mir nicht einmal in meinen kühnsten Träumen ausgedacht. Nun war ich um eine Erfahrung reicher, selbst wenn ich auf diese herzlich gern hätte verzichten können.
Bevor ich mir bewusst machen konnte, was zum Teufel hier gerade vorgefallen war, erwachte mein Kumpel endlich wieder und setzte sich langsam und vorsichtig auf. Dabei streichelte er sein schmerzendes Kinn. Als er mich auf allen vieren am Boden entdeckte, begann er zu lachen. Zwar schwach, aber herzlich. Dann ließ er den Blick umherschweifen. Er suchte nach Harro.
»Hast du ihn in die Flucht geschlagen?«
»Ich wünschte«, lachte ich spöttisch auf, »er hat uns besiegt.« Aber vielleicht hatte ich Niko trotzdem vor Schlimmerem bewahrt, wer konnte das schon so genau sagen?
Nikos Blick trübte sich. »Das bleibt abzuwarten.«
»Oh mein Gott, Schatz«, rief Mama, als sie mich am Boden sah. Ihr Gesicht war vor Schock erstarrt. Alles, was sie in den Händen mit sich trug, ließ sie unverzüglich fallen und eilte zu mir. »Schatz, was ist passiert?« Ihre Stimme überschlug sich und dröhnte in meinen Ohren wie das Geschrei eines Molukkenkakadus nach. »Ich war doch nur fünf Minuten weg!«
»Das waren mindestens fünfzehn«, diskutierte ich. »Ich dachte schon, der Metzger hätte die Kuh frisch im Hinterhof für dich gekillt.«
»Also Kind, deine Witze kommen gerade nicht besonders gut bei mir an.« Sie half mir auf die Beine. Erst als wir aufrecht standen, war sie auch Niko behilflich. »Habt ihr euch etwa