»Entschuldige mal bitte, aber du bist tough, selbstbewusst, unheimlich gebildet und aufgeschlossen. Eine ganz schön große Menge an Potenzial, um das jetzt glauben zu können.«
»Falsch! Ich trete nur so auf, aber all das bin ich nicht.«
Offenbar war sie von Selbstzweifeln zerfressen. Und wenn sie sich nicht von diesem Spacko trennen würde, würde es niemals bergauf mit ihr gehen. »Niemand kann sich frei entwickeln mit einem Klotz am Bein. Harro bremst dich total aus, und du glaubst auch noch, dass es an dir liegt.«
Wieder kehrte Stille ein. Aber dieses Mal würde ich den Teufel tun und sie brechen.
Nun, vielleicht doch.
Ich nahm die Fernbedienung für den Fernseher zur Hand und schaltete einen Musikkanal ein. Den Ton stellte ich auf eine annehmbare Lautstärke, damit wir unsere Unterhaltung nicht schreiend fortsetzen müssten.
Der aktuell gespielte Musiktitel weckte Winters Aufmerksamkeit. Sie richtete ihren Blick auf den Bildschirm und ließ sich von der Musik mitnehmen. Als das Lied zum Ende kam, sagte sie: »Ich liebe diesen Titel.«
»Er klingt ganz schön düster«, merkte ich an. Mein englisches Sprachwissen hielt sich zudem in Grenzen, so konnte ich dem Text nicht vieles entnehmen, wirkte sogar ein bisschen verwirrend auf mich. Leider machte mich Winters Gegenwart noch dazu zu wuschig, um mir den Titel, der am Ende noch einmal eingeblendet worden war, einzuprägen und ihn nachher im Internet zu suchen und zu analysieren.
Sie ging auf meine Bemerkung nicht ein. Stattdessen griff sie wieder das Harro-Thema auf. »Harro ist meine Absicherung. Er würde mich nicht im Stich lassen.«
»Woher weißt du das so genau? Wird er dafür bezahlt, dass er bei dir bleibt, oder was?«
»Ha-ha! Sehr lustig, du Witzbold.«
»Das ist mein voller Ernst, Winter!«
Sie antwortete mir nicht sofort. Man sah ihr an, dass sie die Worte, die sie jeden Augenblick von sich geben würde, gut durchdachte. »Für andere mag Harro ein Egozentriker sein, obendrein arrogant und herrschsüchtig. Aber er liebt mich. Aus tiefsten Herzen. Das weiß ich. Welcher andere Mann kann mir die Garantie geben, dass er bei mir bleibt – dass es so klappt wie mit Harro?«
Ihre gestörte Erwartungshaltung schockierte mich. Es war höchste Zeit, ihr vorzuführen, dass auch andere Jungs das Herz am rechten Fleck hatten und Winter zu lieben wert war. »Kein Junge kann dir diese Garantie geben. Das liegt nicht in seinen Händen. Aber was sehr wohl in seinen Händen liegt, ist Sicherheit. Die wird er dir geben, jeden neuen Tag, ob gut oder schlecht, solange er glücklich mit dir ist. Er wird immer ehrlich zu dir sein, wird dir nichts vormachen, dich immer wissen lassen, wie er zu dir steht. Aber solange er dich liebt, wird er dich so behandeln, wie es dir zusteht, so wie du es verdient hast. Um nichts in der Welt wird er dich verletzen oder irgendetwas Schändliches tun, das seine Beziehung zu dir gefährdet oder sogar komplett zerstört. Nichts wäre ihm dieses Risiko wert, weil er dich liebt, so blind und wahnsinnig, als hätte er es noch nie zuvor getan. Punkt!«
Sie war bewegungslos. Ihr Gesicht war starr vor Begeisterung und in ihren Augen standen große Tränen. Ihre Lippen bewegten sich, als wolle sie etwas sagen, aber es kam kein Ton drüber. Ich konnte ihrer Mimik ablesen, dass sie Harro in meinen Worten nicht wiederfand, doch es genau das war, wonach sie sich ausdrücklich sehnte.
Im nächsten Augenblick schoss sie vom Sofa, hastete mit den Worten: »Ich muss jetzt gehen« zur Haustür und schloss sie mit einem großen Knall. Ich war außerstande, so blitzschnell zu reagieren wie sie gehandelt hatte. So blieb ich zurück wie ein begossener Pudel und mit der quälenden Frage: »Was habe ich falsch gemacht?«
6
Tags darauf, praktisch noch vor dem Aufstehen, hatte ich ein befremdendes Telefongespräch mit Papa. Das entsprach keineswegs der Gewohnheit. An und für sich war das heute eine Premiere. Unter normalen Umständen texteten wir miteinander übers Handy. Nicht einmal das taten wir oft. Dafür blieb ihm keine Zeit. Selbst wenn, dann nutzte er sie lieber für Mama oder zum Essen oder für ein Nickerchen auf der unbequemen, stahlharten Couch seines Büros.
»Könntest du einen Blick auf Mama behalten?« Wie ein Cowboy war er direkt mit der Tür ins Haus gefallen, quasi überfallartig mit Gebrüll und hallenden Schüssen in die Luft.
»Nun, sie ist erwachsen und ...«
»Lass die Scherze, Cedric«, schritt er ein, denn er war ziemlich kurz angebunden, »es ist mein blutiger Ernst.«
»Worum geht es?«
»Sie ist ein wenig komisch geworden, findest du nicht?«
»Schon«, sagte ich, aber ich hatte es ja der Fernbeziehung zugeschrieben. Gesellschaft würde ihr sicherlich guttun.
»Du musst unbedingt herausfinden, was mit ihr los ist.«
»Aber warum sprichst du Mama nicht offen darauf an?«
»Das habe ich bereits getan. Sie sagte, es sei alles in bester Ordnung und ich würde mir nur etwas einbilden. Darum behalte du einen Blick auf Mama, ja? Ich bin nicht ausreichend oft zu Hause, um dahinterkommen zu können.«
Es schien wirklich keinen einzigen Grund für ihn zu geben, kürzer zu treten. Nicht einmal, wenn es um seine Ehe ging. Doch wie stellte er sich das vor? Ich könnte ihn nicht vertreten. Ich war nur der Sohn. Für klare Verhältnisse müsste er allein sorgen, sobald ich hinter Mamas Problem kam. Nur das Problem zu kennen, würde ihm auch nicht weiterhelfen.
»Vielleicht sollte dir das zu denken geben, Papa.«
Als wir noch in Hamburg gelebt hatten, war seine Abwesenheit nicht so frappierend auffällig wie hier und heute, denn er hatte zu Hause wenigstens stattgefunden.
»Was soll das wieder heißen? Meinst du, dein Lebensstil finanziert sich von allein?«, geriet er in Rage.
»Meinetwegen musst du dich nicht buckelig schuften.«
»Ach, hör doch auf! Als ob du die Vorteile nicht genießt.«
»Papa, du spinnst. Ich brauche nicht mehr als andere Kinder. Was denkst du eigentlich von mir?« Jetzt geriet ich in Rage.
So war ich nicht erzogen worden. Ich war kein verwöhnter Rotzlöffel, der den Eltern auf der Nase herumtanzte, nichts entbehren musste und es sich auf seinem bevorstehenden Erbe bequem machte. Ich strengte mich an, um mit meinem Abitur und dem darauffolgenden Psychologiestudium etwas Eigenes auf die Beine stellen zu können, hatte nie und nirgends Dinge eingefordert, als hätte ich alle Rechte dieser Welt, und wertete niemanden nach seinen Lebensverhältnissen ab oder auf.
»Du willst mir allen Ernstes glauben machen, dass du das neue Haus gegen die alte Wohnung eintauschen würdest?« Er war ehrlich außer Fassung.
»Siehst du Papa, du kriegst mal wieder gar nichts mit. Denn dann wüsstest du, dass ich das jederzeit wahrhaftig tun würde. Und weißt du auch warum? Weil Hamburg mein Zuhause ist und weil ich meine Freunde vermisse.«
»Das weiß ich doch, immerhin hast du uns damit wochenlang vor dem Umzug in den Ohren gelegen ...«
»Aber du glaubst, ich wäre käuflich. Du glaubst, das Luxushaus oder mein riesiges Zimmer hätten mich derweil umgestimmt und meine Freunde einfach vergessen lassen. Aber das ist nicht passiert, sieh es ein.«
Papa blieb am anderen Ende still.
»Ich werde mit Mama sprechen, versprochen«, sagte ich wieder im ruhigen Ton, »aber für alles andere musst du aktiv werden.« Dann legte ich ohne Tschüss zu sagen auf.
Nun musste ich hier mal raus.
Darum hatte ich spontan beschlossen, das Wochenende bei Tante Effi in Hamburg zu verbringen und mich mit meinen alten Kumpels zu treffen. Seit die Schule begonnen hatte, war ich nicht mehr hier gewesen, war nicht einmal von den Fluchtgefühlen heimgesucht worden, die ich zuvor hatte auf mich zukommen sehen. Aber jetzt war es notwendig.