Als ich mit dem Essen fertig war, lehnte ich mich zufrieden in den Stuhl zurück. »Mama, wie kommt es, dass du Hamburg nicht vermisst, hier einfach neu anfangen und leben kannst, als wäre es nie anders gewesen?«
Auch sie hatte gerade den letzten Bissen zu sich genommen und begann zu sprechen, noch bevor sie die zerkaute Masse heruntergeschluckt hatte. »Ich schätze, es liegt daran, dass meine Vorstellung vom Leben eine andere ist als die deine. Ich fühle mich hier pudelwohl. Alles ist, wie ich es mir schon in jungen Jahren erträumt habe. Aber natürlich vermisse ich Hamburg auch ein bisschen. Die Gewohnheit macht es. Immerhin habe ich zweidrittel meines Lebens dort verbracht, du sogar dein gesamtes Leben. Nur fällt es mir deshalb leichter, den Weggang wegzustecken, weil Hamburg auf der Karte eben nicht unendlich weit weg von hier liegt. Ganz im Gegenteil, Hamburg ist in greifbarer Nähe.«
Anscheinend musste ich das erst einmal realisieren. Bisher war mir das nicht möglich. Ich fühlte mich von der Außenwelt komplett abgeschnitten. Wahrscheinlich war das normal. Jeder brauchte seine Zeit, Dinge zu verinnerlichen. Ich befürchtete nur, dass mir das mit diesem Ort niemals gelingen würde.
»Ich verstehe deinen Kummer. Deine besten Freunde können nicht mehr auf diese Weise Teil deines Lebens sein, wie du es gern hättest. Aber gefällt es dir hier nicht wenigstens ein klitzekleines bisschen?«
»Es ist ein Kaff, Mama!« Das sagte doch alles, oder?
Bedrückt senkte sie den Blick. »Nur dieses eine Jahr! Dann kannst du wieder nach Hamburg zurückgehen.«
Einen kurzen Moment ging ich in mich. Ich fragte mich, ob es meinen Eltern gegenüber fair war, nur an mich zu denken. Immerhin hatten sie mich mein ganzes Leben lang unterstützt, und zwar in allem, was mir lieb und teuer war. Dass mir der Umzug so sehr zusetzte, hatten sie sicherlich nicht erwartet und schon gar nicht gewollt. Vielmehr hatten sie geglaubt, mir eine Freude damit zu machen. Daher wäre es vielleicht an der Zeit, auch Mama und Papa ihr Glück zu gönnen und ihnen nicht permanent den Eindruck zu vermitteln, dass sie irgendetwas falsch gemacht hatten. Verflixt noch mal, es war Mamas Traum! Warum konnte ich denn nicht wenigstens im Stillen leiden? Das war ich ihr schuldig.
»Zuallererst ist es wichtig, dass du und Papa glücklich seid. Und es ist ja nicht so, dass ich kreuzunglücklich bin. Im Grunde ist das Leben hier ja eine Art Langzeiturlaub.«
Mama grinste und stimmte dem zu: »Das ist ein gutes Argument, mit dem man sich durchaus über die Zeit trösten kann.«
Ich warf einen Blick auf die Küchenuhr. Es war später als gedacht und ich stieß ein schreckhaftes »Oh!« aus.
»Was ist los?«, fragte sie wie vom Donner gerührt.
Ich raffte mich hoch. »Ich muss gehen. Ich treffe mich nämlich mit Niko und Jule.«
Wir planten einen Kinobesuch. Zuerst hatte ich mich geweigert, die beiden zu begleiten, denn es lag mir fern, ein Pärchen bei ihrem romantischen Date zu stören, geschweige denn ein hübsches fünftes Rad am Wagen abzugeben. Aber beide schworen tausend Eide, dass dies kein romantisches Date sei und es auch keinen romantischen Film geben würde. Irgendetwas Amüsantes stand auf dem Plan.
»Na dann, viel Vergnügen«, rief sie mir völlig verdattert hinterher. Für den Wirbel, den ich mit einem Mal veranstaltete, hatte sie kein Verständnis übrig.
Als ich zwanzig Minuten später zu ihnen stieß, empfing Niko mich mit einem langen Gesicht, während Jule wie auf Knopfdruck umschalten konnte und mich mit heiterer Miene begrüßte. Ich wusste, dass seine miese Laune nicht mir galt, denn schon von Weitem hatte ich die beiden Turteltauben mit unwirschen Gesten debattieren gesehen. Ich hätte einen meiner gängigen Sprüche ablassen können, aber ich hielt lieber den Mund, um seine miese Laune nicht auch noch zu schüren und uns den Abend zu verderben. Zudem ging mich ihr Problem nichts an.
3
Nach zwei Wochen war Winter Sommer wieder in die Schule zurückgekehrt. Ich kannte den Grund ihres Fehlens nach wie vor nicht. Womöglich hatte ihr eine hartnäckige Grippe zugesetzt. Zwar waren im Augenblick keine ansteckenden Krankheiten im Umlauf, aber mit einer Person musste eine Epidemie ja beginnen. Aktuell sah sie topfit aus. Aber nicht glücklich. Ihre hängenden Mundwinkel und eine tiefe Zornesfalte zwischen den Augen ließen darauf schließen.
Heute trug sie ihre Haare geschlossen. Als Knoten auf dem Kopf. Entweder diente es der Vorsorge, falls ein dusseliger Junge namens Cedric Claußen wieder ihren Weg kreuzen würde, oder sie gedachte, sich dem wohl hässlichsten Trend, den es je rund ums Haar gegeben hatte, anzunehmen. Dessen ungeachtet, an ihr sah der zerfranste Dutt gar nicht mal so verkehrt aus. Woran das lag, konnte ich mir nicht erklären. Eventuell lag es an ihrem insgesamt sehr attraktiven Erscheinungsbild, das nichts entstellen konnte, nicht einmal ein Kartoffelsack, wie man so schön zu sagen pflegte.
Offensichtlich übte ihr Wesen eine hypnotische Faszination auf mich aus, oder weswegen verspürte ich den Drang, sie so gründlich unter die Lupe zu nehmen? Es könnte jedoch genauso gut sein, dass ich mir lediglich Anns Worte zu Herzen nahm und herausfinden wollte, ob Winter Sommer diesen auch wirklich gerecht wurde.
Sie hatte das Schulgelände ohne Fahrrad betreten. Wahrscheinlich war es immer noch im Eimer. Aber Gewissensbisse hatte ich keine. Weil ich an dem verflixten Unfall schlicht und ergreifend nicht schuld war.
Ihre Freundin Inka begrüßte sie überschwänglich, nahm sie fest in die Arme und wog sie dabei hin und her. Daraufhin nahm sie Winters Gesicht liebevoll in die Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Das riss Winter zumindest zu einem flüchtigen Lächeln hin.
Ich überlegte, ob ich zu ihr hinübergehen und mich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen sollte. Das gebot ja schon allein der Anstand, fand ich. So meldete ich mich bei Niko und meiner neuen Clique kurz ab und tat, was ich tun musste.
Winter sah mich auf sich zukommen, aber das kümmerte sie kaum. Sie warf mir nur einen kurzen, interesselosen Blick zu und sah keinen Grund darin, die Unterhaltung mit Inka zu unterbrechen. Erst als ich sie erreicht hatte, stellte sie das Sprechen ein und funkelte mich verärgert an. Ihr Blick fragte nicht nach einer rationalen Begründung für die Störung, er forderte die rationale Begründung geradezu ein.
»Geht es dir gut?«
Verwundert erwiderte sie: »Seh ich denn so scheiße aus, oder weshalb fragst du?« Ihre Freundin lachte hell auf.
»Ich dachte nur, du hättest dir bei deinem Fahrradunfall vielleicht mehr zugezogen als zunächst angenommen. Du warst ganz schön lange krank.«
»Und wenn? Warum sollte dich das groß interessieren?«
»Nun, ich war daran ja nicht ganz unbeteiligt.«
»Ach, plötzlich siehst du ein, dass du schuld hast?«
»Nein, nein, ich sagte nur, dass ich daran nicht ganz unbeteiligt war. Augen habe ich am Hinterkopf nämlich nach wie vor keine.« Ich wandte meinen Kopf um und fuhr mir durch mein braunes Haar, um es unter Beweis zu stellen.
»Es geht mir gut, danke der Nachfrage.« Sie zupfte ihr weites blaues Top am unteren Saum zurecht. »Aber mein Ausfall hat nichts mit dem Unfall zu tun.« Sie zog das linke Hosenbein ihrer verwaschenen Dreiviertel-Sweathose hoch und legte eine fast verheilte Schürfwunde am Knie frei. »Auch wenn ich noch heute etwas davon habe, wie du sehen kannst.«
Ich erinnerte mich an das viele Blut, das damals durch ihre Leggings gesickert war. »Sieht ja übel aus.«
»Nicht mehr so sehr, wie am Tag des Unfalls.«
Mit den Worten: »Ich warte im Klassenzimmer auf dich« zog sich Inka jetzt zurück. Sie ahnte wohl, dass das Gespräch zwischen Winter und mir länger dauern würde.
»Okay«, erklärte Winter sich einverstanden. Dann wandte sie sich wieder an mich. »Lass uns doch schon mal dieselbe Richtung einschlagen. Wir können