»Keine Ahnung.« Ich fasste mir an die Stirn, denn erst jetzt registrierte ich einen Schmerz.
»Sieht übel aus«, machte Niko mich darauf aufmerksam, dass mein Schmerz durch eine Wunde herrührte, aus der literweise Blut heraussickerte. So schien es zumindest, als ich meine rot überlaufende Hand sah.
Mama wetzte zum Auto, entriegelte den Kofferraum, machte knisternde Geräusche, was darauf schließen ließ, dass sie sich durch billige Einkaufstüten wühlte, und wetzte wieder zurück zu mir. Sie presste ein Handtuch auf die Wunde.
Ich übernahm das Halten, damit ich mir nicht vorkam wie ein Baby. »Und du fährst die Handtücher immer spazieren, weil?«
»Das Preisschild ist noch dran. Könnte es eventuell darauf hinweisen, dass ich gerade erst neue gekauft habe? «
»Eventuell ...«
»Für zehn Euro per Stück, nebenbei bemerkt.«
In der Zwischenzeit hatte Niko sich daran gemacht, Mamas Fleisch und Portemonnaie wieder aufzusammeln. »Was haltet ihr denn davon, mit dieser Wunde ins Krankenhaus zu fahren? Nur sicherheitshalber.«
Mama hätte sowieso nichts anderes zugelassen und dankte ihm für seine Vernunft. »Ich sollte dich besser auch gleich mitnehmen. Einen Arzt eben drüber gucken lassen, kann ja nicht schaden.«
»Mir geht es gut, Annegret, danke, aber ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mich nach Hause kutschieren würdest. Wäre das möglich?«
Das ließ sie sich nicht zweimal fragen. Es hätte ihr die nächsten Nächte den Schlaf geraubt, wenn sie ihn hier allein zurückgelassen hätte.
5
Kaum zu fassen, aber dieses Kaff verfügte über ein eigenes Krankenhaus. Bislang hatte sich mir noch nicht die Gelegenheit geboten, Bekanntschaft damit zu schließen. Nun war es endlich soweit. Und ich war positiv überrascht von dem Personal. Ich hatte Neandertaler ähnliche Verhältnisse erwartet. Hinkende Krankenschwestern mit verrücktem, krausem Haar und keulenschwingende Ärzte in Fellwesten, die um ein Lagerfeuer hockten und es überschwänglich vergötterten. Und auch das Gebäude selbst war modern und recht vertrauenswürdig. Die beträchtliche Anzahl von Patienten, die sich hier tummelten, sprach für sich. Auch, dass sie nicht unglücklich aussahen, beruhigte mich ungemein.
Das überteuerte Handtuch triefte schon vor Blut, als ich endlich in das Sprechzimmer des Arztes gerufen, nicht, wie vorab befürchtet, an den Haaren hineingeschliffen wurde. »Dr. Rafael Pohl«, stellte er sich vor. »Herr Claußen, da haben Sie ja ganze Arbeit geleistet, wenn ich mir das Handtuch so ansehe.« Meine Hände, die das Handtuch abwechselnd hielten, waren ebenfalls rot vom Blut.
»Meine Arme werden auch schon ganz lahm vom Halten«, riss ich Witze, obwohl mir gar nicht danach war. Ich litt unter Schmerzen und zunehmendem Schwindel. Der ganze Blutverlust konnte ja auch zu nichts Gutem führen.
»Sie sollten sich vielleicht einmal setzen. Sie sehen auch schon ganz blass um die Nase aus.«
Ich ließ mich kein zweites Mal bitten. Die Liege bot sich da hervorragend an. Für den Fall, dass ich nun doch noch ohnmächtig zusammensacken würde, würde ich wenigstens einigermaßen weich landen.
»Wobei haben Sie sich die Wunde zugefügt?« Vermutlich musste er solcherlei Fragen stellen, um häusliche Gewalt oder eine andere Art der Misshandlung ausschließen zu können.
»Nur durch eine kleine kindische Rangelei. Nichts, was man überbewerten müsste.« Daran glaubte ich fest. Na schön, Hoffnung traf es mehr.
Er zog sich die Nitrilhandschuhe so routiniert über, dass mir klar wurde, dass er das bestimmt tausendmal am Tag tun musste. Wenn nicht sogar zehntausendmal. Jedenfalls bedeutend öfter, als er Operationen durchführen musste, das stand fest.
Er trat souverän an mich heran und nahm das Handtuch von der Wunde. Ganz selbstverständlich entsorgte er es im Müll. Er schien es nicht zu mögen, viele Worte da zu verschwenden, wo es keine bedurfte. Ganz im Gegensatz zu Mama, die zum Glück im Wartebereich ausharrte und das Handtuch nicht wieder aus dem Müll fischen konnte. Sie mochte mit materiellen Verlusten gut fertigwerden, aber nicht mit dem Kontrollverlust und dreisten Ärzten.
»Demzufolge muss ich mir keine Sorgen darüber machen, dass das zur Gewohnheit wird und Sie hier künftig öfter aufschlagen?«
Ich lachte: »Sie klingen wie meine Mutter.«
Dr. Rafael Pohl reinigte die Wunde zuerst gründlich mit einem Wunddesinfektionsmittel. Daraufhin kontrollierte er die darunter liegenden Knochen, Nerven und Sehnen auf Verletzungen. Das wusste ich deshalb so genau, weil er jeden seiner Handgriffe ankündigte. Offensichtlich wollte er seine Patienten nicht im Ungewissen lassen, damit sie nicht erschraken. Außerdem wirkte es beruhigend ein, musste ich feststellen. Für ihn war ich nicht nur ein Objekt ohne Seele, das man reparierte.
»Es ist bloß eine Platzwunde, aber sie heilt schlecht. Die Wundränder sind zu stark beschädigt und finden nicht mehr von alleine zusammen. Deshalb werde ich die Wunde klammern«, erklärte Dr. Rafael Pohl, während er die ersten Vorbereitungen für die Mini-OP traf. »Ich werde Ihnen nun ein örtliches Betäubungsmittel in den Wundbereich spritzen.«
Spritzen flößten mir Angst ein. Kurz überlegte ich, ob ich das erwähnen sollte, aber da kam er bereits zu mir zurück, bereit, mir das Teil ins Fleisch zu rammen. Allerdings schien er den Schweißperlen auf meiner Stirn die Angst entnehmen zu können. Er hielt die Spritze so, dass die Nadel nach oben zeigte, als er fragte: »Wie steht es mit Ihrem Tetanusschutz? Müsste dieser aufgefrischt werden?« Ich überlegte lange. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann mir das letzte Mal eine Tetanusimpfung verabreicht worden war. Die Tatsache, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, ließ Dr. Rafael Pohl nicht lange fackeln. »Dann tun wir es sicherheitshalber.«
Spätestens als er die Nadel wieder aus meiner Haut zog, stand fest, dass seine Frage an mich nur der Ablenkung gedient hatte.
Dieser Arzt war ein Heiliger!
Mama hatte mir per Sprachnachricht mitgeteilt, dass sie am Auto auf mich wartete. Die Krankenhausatmosphäre hatte ihr nach eigener Aussage zu schaffen gemacht.
Auf dem Weg hinaus hörte ich jemanden nach mir rufen. Die Stimme war mir vertraut. Benommen drehte ich mich um. Ein Flimmern vor den Augen beschränkte meine Sicht. Ich kniff sie fest zusammen, daher erkannte ich erst auf dem zweiten Blick, dass es sich um Winter Sommer handelte, die auf mich zulief. Sie wurde ganz offensichtlich von ihrer Mutter begleitet. Winter war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Besonders das feine Kinn, die konkave Nase und die kurvigen, dicken Augenbrauen machten sie beinahe zu Zwillingen. Nur die Körpergröße unterschied sich auffallend. Es waren etwa zehn Zentimeter. Winters stattliche Größe von einsneunundsiebzig war mir schon am ersten Tag unseres suboptimalen Zusammentreffens aufgefallen. Aus der Menge ragte sie heraus wie eine Königin. Man konnte nicht anders und musste sie anstarren.
Bei mir angekommen bat Winter ihre Mutter, vor der Tür auf sie zu warten. Die Mutter lächelte verständnisvoll, strich ihr zärtlich über das Haar und entschuldigte sich bei mir, weil ihr keine Zeit blieb, sich vorzustellen.
Winter reagierte erschrocken, als sie meine bandagierte Stirn sah, und fragte: »Was ist passiert?« Dann setzte sie sich in Gang und lief in die Richtung eines Getränkeautomaten, wohin ich ihr gemächlich folgte.
»Lange Geschichte.«
»Ich hab Zeit.« Sie steckte ihre Hand tief in die Seitentasche ihrer lockeren modischen schwarzen Shorts mit hoher Taille und suchte nach Kleingeld. Sie wurde fündig und zählte es in ihrer offenen Hand nach. »Mir fehlen zwanzig Cent. Könntest du mir aushelfen?«
Nun