»Du Glückspilz.«
»Weshalb sponsern dir eigentlich deine Eltern nicht den Führerschein? Es ist ja nicht so, dass die Kohle dafür nicht da wäre. Und nun lebt ihr auch noch in so einem Kuhkaff, wo man auf einen fahrbaren Untersatz angewiesen ist.«
»Gute Frage!« Ich hatte nie mein Interesse an einen Führerschein geäußert, darum konnte ich die Frage nicht beantworten. In der Großstadt hätte ich nie ein Auto benötigt, wäre mit den öffentlichen Verkehrsmitteln sogar noch viel besser dran gewesen. Aber nun, wo er es erwähnte, fiel mir ebenfalls auf, dass ein Pkw-Führerschein nie mehr Sinn gemacht hatte als jetzt. »Ich werde es einmal ansprechen, wenn ich wieder zu Hause bin.«
An der nächsten roten Ampel erkundigte sich Basti über Niko. »Er hat sich nämlich ganz schön von uns abgeschottet. Er reagiert neuerdings überhaupt nicht mehr auf Nachrichten.«
Da der Abstand zu den Jungs von Niko ausging, tat ich so, als wüsste ich von nichts. Ich mochte keinen Verrat begehen und Details ausplaudern, wenn es ihm nun mal nicht recht war, dass seine alte Clique aus seiner alten Heimatstadt etwas erfuhr. Ich befürchtete nur, dass Niko sich künftig auch von mir immer mehr distanzieren würde. Und das würde mich wirklich unglücklich machen. Mehr und mehr wurde mir klar, dass ich sein Vertrauen neu erlangen und ihm wieder ein besserer Freund werden musste. Die Entfernung, die uns vor dem Umzug in das beschauliche Siebentausendseelendorf getrennt hatte, hatte auch in unserer Freundschaft Spuren der Zerstörung hinterlassen, ohne dass ich mir je darüber bewusst gewesen war. Aber vielleicht machte ein weiter, räumlicher Abstand genau das aus Menschen. Vielleicht gelang es uns auf Dauer nicht, auch Personen, die wir liebten, für immer in unserem Herzen zu bewahren. Vielleicht würden sie immer einen besonderen Platz darin einnehmen, würden jedoch irgendwann nicht mehr in den neuen Zeit- oder Lebensabschnitt passen und man würde sich nur noch an sie erinnern als den Teil, der sie einmal gewesen waren. Vorbei die Zeit, in der uns diese Personen noch glücklich gemacht hatten. Wie viel Einfluss hatten wir denn schon auf unsere Gefühle?
»Vielleicht solltet ihr ihn mal besuchen. Das habt ihr noch nie getan. Das könnte ihn aufmuntern.« Und erst, als ich die Worte laut ausgesprochen hatte, checkte ich, dass auch ich das nie zuvor getan hatte. Wieso? Weil ich mich darauf ausgeruht hatte, dass er einmal im Quartal ohnehin nach Hamburg gekommen war, um Heimatluft zu schnuppern. Aber könnte es sein, dass unser fehlendes Interesse an Nikos neuem Leben daran Schuld gewesen war, dass er sich von uns zu lösen begann?
»Er hat letztens was von einer Strandparty an der Ostsee erzählt, die demnächst stattfinden soll. Was denkst du, sollten wir dorthin kommen? Das wäre immerhin ein Anfang.«
Über eine Strandparty war mir noch nichts bekannt, jedoch würde ich mich mit Sicherheit informieren. »Das wäre großartig, wenn ihr das einrichten könntet.«
Beim Rechtsabbiegen in eine enge Seitenstraße legte Basti plötzlich eine Vollbremsung ein und betätigte die Hupe wie ein wild gewordener Affe. »Bist du farbenblind, du blöde, fette Tussi?«, schrie er dermaßen laut, dass mein linkes Ohr tinitusartig pfiff. »Du hast rooohooot!«
»Verflucht noch mal, Basti, mein Trommelfell hat sich soeben bei mir verabschiedet«, schrie ich nun ebenfalls.
»Entschuldige bitte, du Diva, aber ich habe fast ein Mädchen über den Haufen gefahren. Da dürfen einem schon mal kurz die Nerven durchgehen.«
Durch die Windschutzscheibe starrte ich das besagte Mädchen an, das mir wie ein eingefrorenes Bild erschien. Nur quälend langsam kamen alle Beteiligten wieder zu sich. Bis ich endlich realisierte, wer dort vor uns stand. »Sie ist nicht fett, sie ist schwanger.«
Mit zitternder Unterlippe murmelte Basti: »Luisa!« Er war völlig vom Schock befallen. »Hamburg hat eins Komma acht Millionen Einwohner, und ich fahre ausgerechnet Luisa über den Haufen?«
Ich hatte keine Zeit, ihn aufzurichten. Ich sprang aus dem Auto und eilte zu ihr, um sie von der Straße zu führen und den Verkehr nicht weiter aufzuhalten. Derweil lenkte Basti den Peugeot in die nächste Parklücke und wartete dort auf mich.
»Hast du das geplant?«, motzte ich, zwar klar im Schädel, aber innerlich noch immer aufgewühlt.
»Natürlich, und ich habe das vorher auch zehnmal täglich geübt, bis der Tag der Tage endlich gekommen ist!«, motzte Luisa atemlos zurück und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Was denkst du eigentlich, wer du bist? Leonardo DiCaprio?«
»Tu doch nicht so. Eben noch legte mir Tante Effi nahe, mich um dich zu kümmern, und zwei Stunden später stehst du auf einmal so mir nichts, dir nichts vor mir.«
Sie machte erstickte Geräusche, die Augen vor Rage weit aufgerissen. »Bist du gerade irgendwie irgendwo ausgebrochen?« Abermals tippte sie sich an die Stirn. »Lass dich mal behandeln.« Mit watschelndem Gang verließ sie mich.
»Warte doch mal!« Mit zwei großen, schnellen Schritten lief ich ihr hinterher und ergriff ihren Oberarm, um sie am Weitergehen zu hindern. Ich konnte sie nicht einfach so davonziehen lassen, im Wissen, dass ihr nicht wohl war.
»Was ist?« Sie riss ihren Arm zurück.
»Wie geht es dir?«
»Was glaubst du?« Mit ihrem Blick deutete sie flüchtig auf ihren kugelrunden Bauch, den sie mir in ihrem leichten, weißen, knielangen Sommerkleid ein Stück entgegenstreckte. »Ich fühle mich fett wie ein Seehund, das Gehen fällt mir schwer und ich habe keinen Mann, der mir die Einkaufstüten nach Hause schleppt.« Kurz hob sie die Einkaufstüten in ihren Händen ein Stück an, um dem Nachdruck zu verleihen.
»Falls das eine Aufforderung ist«, blies ich den Hoffnungsfunken, der in ihren Augen aufblitzte, erbarmungslos aus, »ich habe jetzt echt keine Zeit. Wir sind auf dem Weg nach Quickborn.«
Sie hob das Kinn an und näselte tödlich beleidigt: »Nein, das war keine Aufforderung. Ich wohne zwei Blocks weiter. Ich brauche deine Hilfe also nicht jetzt – und auch sonst nicht.«
Ich schaute mich um. Es war nicht der exklusivste Stadtteil wie Harvestehude, aber erfreulicherweise auch kein Problemviertel wie Billstedt. Ich war beruhigt, denn laut Tante Effis Aussage, schien Luisa ja unter irgendeiner Kanalbrücke unter wüsten Bedingungen zu hausen. Na gut, vermutlich war auch nur meine Fantasie mit mir durchgegangen.
»Was ist aus deinem Plan geworden, Jura zu studieren?«
»Hat sich nur verschoben. Ich habe ihn nicht aufgegeben.« Sie wirkte nicht, als wäre sie selbst davon überzeugt. Doch sie wirkte auch nicht wehmütig. »Ich bin noch jung. Das rennt mir nicht weg.«
»Freust du dich?«
»Auf das Kind?« Ich nickte bestätigend. »Nicht das Kind bereitet mir Unannehmlichkeiten, wohl aber die missliche Lage.«
»Kevin hat sich aus dem Staub gemacht ...« Zum Beispiel.
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nicht er hat mich verlassen, sondern ich ihn. Denn ich kann keinen Junkie in der Nähe meines Kindes dulden.«
»Er hat Drogen konsumiert?«
»An der Nadel hing er nicht gerade, aber er war dauerbekifft.« Sie verlagerte ihr Gewicht von links nach rechts. »Und nichts sprach dafür, dass er für unser Kind in Zukunft die Finger davon lassen wird. Also habe ich die Reißleine gezogen, bevor mein Kind das Licht der Welt erblickt und sich an diesen Hirntoten gewöhnt.«
»Nicht einmal sein Kind ist es ihm wert, etwas zu ändern? Ich meine, es wäre ja auch ihm zugute gekommen. Oder findet er es befriedigend, so ein asoziales Leben zu führen?«
Sie zuckte mit den Schultern, wusste sich offenbar auch keinen Rat. »Er hat so ein schlagendes Argument hervorgebracht wie: ›Es war ja nicht geplant und darum muss ich auch nichts ändern.‹«
Demonstrativ legte ich den Zeigefinger ans Kinn und grübelte angestrengt. »Mir erschließt sich die Logik nicht.«
»Mir auch nicht, aber