Solange sie schlief. Matthias Rathmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Rathmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844271591
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Nacht war unauffällig, ich verbrachte sie wie den Sonntag, ungebrochen unerfüllt nämlich. Mit dem Morgen nahm ich mir vor aufgeräumter zu agieren. Die Liebe und die Frauen nahmen zu viel von dem, was die sonstige Ordnung brauchte. Ich begann, die erste Fassung eines Drehbuchs weiter zu korrigieren und war auf der Suche nach einem Titel, der den Schwellenpunkt treffen sollte, wenn Menschen zum Wahnsinn mutierten. Ich kramte ein paar Bücher hervor, las über den bedauernswerten Herrn Nietzsche und manövrierte durchs Internet. Alles war erfolglos. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Ständig wogen mir diese zwei Begehrlichkeiten durch den Kopf. Unaufhaltsam und unwiderruflich hatte letztlich der Drang nach Erkundung gesiegt, wem genau sie gehörten. Wer sich selbst nicht bewegte, bewegte nichts.

      Ich bezog die Adresse jenes Klamottenlabels. Die Zentrale lag im Stadtzentrum. Nach meiner Einschätzung arbeitete sie im Büro. Ich erwarb zum wiederholten Male ein bestimmtes Buch und setzte mich vor den Personaleingang. Eine ganze Weile beobachtete ich alle die, die an mir vorbeigingen und stellte mir vor, wie sie jeden Tag in exakt gleichem Schrittwechsel die Steine des Bürgersteigs betraten. Von einer Frau hätte ich mir vorstellen können einen Plausch mit ihr zu halten. Sie trug Rock und Blazer. Mit einem Aktenkoffer eierte sie auf ihren Absätzen an mir vorbei, lächelte kurz und verschwand ein paar Türen weiter in einem der benachbarten Gebäude. Ich stellte sie mir vor, auf ihrem Schreibtisch, in meinen Händen, lechzend, stöhnend. Ihr wesentliches Merkmal waren wieder einmal riesige Brüste gewesen, die ein Ausschnitt zur Schau gestellt hatte, für den sie bestraft gehörte.

      Ihr Anblick löste, ohne dass ich einen Einfluss darauf gehabt hätte, eine neue Schrägheit meiner Gedanken aus. Ich fragte mich, ob sich die Menschen in meiner Stadt wohl ihren Begierden hingaben, wann immer ihnen danach war. Oder wie viele Frauen wohl gerade in morgendlich sorgsam ausgesuchter Garderobe mit hochgestülptem Rock zitternd an irgendwelchen Wänden standen, um ihm danach mit der Androhung, sich bei Ehefrau und Chef vorstellig zu machen, Zugeständnisse abnötigte, die sie im herkömmlichen Umgang niemals erreicht hätten.

      Ich dachte darüber nach, dass ich diese Stadt abgelaufen hatte. Eine aktuelle Studie, die ich im Internet entdeckt hatte, kam mir in den Sinn. Ihr Ergebnis attestierte den Männern endgültig, beim Anblick einer schönen Frau das Denken zu vergessen. Ich war müde. Ich konnte mich nicht mehr motivieren, nicht einmal mehr für den so einfachen Akt der menschlichen Kontaktaufnahme, diese Frau mit dem Ausschnitt, der keiner war, auf einen Kaffee einzuladen. Ich las beharrlich drei Zeitungen, aus deren Berichten ich nur wenig behielt. Das ganze Elend dieser Welt konnte man mit einem guten Akt kompensieren, dachte ich, vorausgesetzt, all die Ungerechtigkeiten und Bestrebungen nach Macht und Ohnmacht bewegten einen grundsätzlich. Für die Dauer von Sex waren die Menschen befreit. Weil niemand das Leben lenken konnte, wurde die Konfusion der Menschen in dieser Stadt zusammengehalten von Sex und einer gemeinsamen Sprache. Von nichts mehr. Anderswo erging es allen ähnlich, war ich mir sicher. Anderswo war sowieso, anderswo war die ganze Welt.

      Gegen zwei Uhr schritt sie endlich hinaus. Sie telefonierte und zwar so elegant, erotisch nahezu, dass ich befürchtete, sie bis in die Arme ihres Lovers begleiten zu müssen. Ich folgte ihr in eine Einkaufspassage, deren Angebote zum Mittagstisch ich aus früheren Zeiten kannte. Sie wählte einen Italiener, wartete geduldig an der Ausgabe des Schnellrestaurants und ging, immer noch ihr Mobiltelefon geübt zwischen Schulter und Ohr gepresst, mit einem Salat samt Putenfleisch zu einem der Tische. Ihr Duft schlich mir herrlich frisch in die Nase. Aus Berechnung bestellte ich Gleiches und setzte mich genauso dreist wie dynamisch zu ihr.

      „Hallo! Ich kenne dich. Flüchtig. Sehr flüchtig.“

      „Und woher?“ fragte sie sichtlich überrascht. Züchtig verbot sie mit zugeknöpfter Bluse tiefere Einblicke und trug eine schwarze, enge Hose, die ihre langen, so unwiderstehlichen Beine verbargen. Ihre Fingernägel waren unlackiert, ein breiter Reif hielt ihre Haare und ein dezentes Kettchen zierte ihr linkes Handgelenk.

      „Aus meinen Träumen,” gestand ich und sah an der Starre ihrer völligen Verblüffung, dass sie sich unverzüglich einen neuen Gast wünschte. Ich versuchte den Blickkontakt mit einem smarten Lächeln zu halten, doch sie ordnete weiter ihren Salat. „Gestern. Im Beachclub an der Elbe,” ergänzte ich und musterte sie noch eindringlicher. „Du warst mit deiner Kollegin da. Vermutlich. Sah jedenfalls so aus wie deine Kollegin. Ich war allein.“

      „Ach ja? Hab’ dich gar nicht gesehen,” entgegnete sie kurz zurück. „Und ich war mit meiner besten Freundin da.“

      „Ich habe mich im Hintergrund gehalten. War nicht so mein Tag. Ungewohnt eben. So viel Sonne, meine ich.“

      „Und heute? Ist heute dein Tag? Geht es dir wieder besser?“ Meine Erwählte hob ihren Kopf, senkte ihr Kinn und schielte mich erstmals genauso flüchtig wie zaghaft an.

      Bevor sie ihren Unmut vollständig vortragen konnte, legte ich das Buch auf den Tisch. „Für dich! Eine kleine Aufmerksamkeit. Nett von mir, nicht wahr?“

      Sie blickte auf mein Mitbringsel, das in Geschenkpapier verpackt war, und wirkte für einen Moment verwunderter als zuvor. Wenn sie eine Frau mit Geist war, verstand sie unverzüglich. Wenn nicht, war es gleichgültig. Peinlich war dieser Auftritt ohnehin. Sie schaute auf das Buch, schmunzelte gequält, steckte es ein und meinte: „Eher ungewöhnlich. Wir kennen uns gar nicht. Aber danke! Sonst noch was?“

      Natürlich war noch etwas, jede Menge war noch, doch ich antwortete: „Nein!“ Ich versuchte ein weiteres Mal in ihre herrlichen Mokkaaugen zu blicken. Sie aber aß ihren Salat und zelebrierte den sonst so gewöhnlichen Vorgang der Nahrungsaufnahme förmlich, um mir unmissverständlich nonverbal mitzuteilen, dass ich mich verziehen sollte, aber schleunigst.

      „Na ja! Es muss bestimmt Spaß machen, mit dir in der Sonne zu liegen... Und sich dann und wann einmal über ein paar Seiten aus diesem Werk zu unterhalten.“

      „Woher willst du das wissen?“ fragte sie spitz, was mir verriet, dass sie getroffen vor mir zu flüchten versuchte.

      „Sah so aus.“

      Sie nickte, legte ihre Gabel zur Seite und hielt einen Blick, der, so ungewohnt er war, dennoch etwas Verbindendes besaß. „Süßer Versuch! Aber ich habe eine Beziehung, in der ich sehr glücklich bin. Ist auch heute nicht dein Tag.“

      „Das macht doch nichts,” stotterte ich ihr entgegen und bereitete den Rückzug vor. „Dann unterhalte dich mit ihm! Er hat bestimmt den Geist dazu.“

      Plumperquatsch kam herbeigestampft. Meine Angebetete, und mehr würde sie nicht werden, dessen war ich mir anfallartig sicher geworden, winkte sie so stürmisch herbei, als gelte es, sie aus den Fängen eines Ungeheuers zu befreien.

      „Na, dann,” meinte ich. „Was immer du noch tust. Ich hoffe, es gibt viele Momente, die du genießen kannst.“ Innerlich fluchte ich. Ihr gehörte der Marsch geblasen oder eine Attacke geritten, wie unnötig ihr Gehabe doch war, sich in Situationen wie diesen frauentypisch versteckt wie ein Engelchen im Vorhang zu gebärden, das einem ein zaghaftes Huhu zurief, ergänzt mit dem noch leiseren Eingeständnis, in einer so ganz anderen Welt zu leben und Angst zu haben.

      „Ja, du auch!“

      „Ach so, ja! Entschuldigung! Ich bin unhöflich.“ Ich legte zehn Euro auf den Tisch. „Für das Essen. Du bist eingeladen gewesen. Ich war zu spät, es vorher zu sagen. Entschuldigung!“ Ich stand auf, als mir ein allerletzter Gedanke kam. „Reicht wohl auch noch für ein Schokoladeneis. Na ja! Für ein kleines.“

      Wir verabschiedeten uns ohne ein weiteres Wort. Durch die Fensterscheiben sah ich, wie beide meinen Abgang verfolgten. Natürlich lästerten sie, wie jede Frau spotten würde, wäre ihr jemand mit ähnlichem Auftreten begegnet, weil sie sich geschmeichelt fühlten und das Unerwartete weder unverschämt noch wirklich beklagenswert war. Ihr Gerede störte mich nicht. Sollten sie doch tuscheln und tratschen. Ich hatte es versucht. Ich hatte mich erhoben, meine Ängste besiegt, mein Ego befriedigt. Niemand hätte sagen können, dass ich es nicht wenigstens versucht hätte. Nicht weil etwas schwierig war, wagten die Menschen es nicht. Weil sie es nicht wagten, geriet es schwierig.

      Natürlich war ich aufgeregt, natürlich nahm mein Herzklopfen jede Luft