In grauen Zonen. Christian Toepffer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Toepffer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738031447
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verhaftet.“ „Tätige christliche Nächstenliebe“, lobte Tante Emmi. Tante Luise passte das alles nicht: „Mit seinem Webfehler hätte er sich nicht auch noch mit zweifelhaften Kreisen einlassen sollen. Wahrscheinlich hatte der doch nur Angst vor den Bomben. Von mir aus hätte er in Schlesien bleiben und sich von seinen roten Gesinnungsgenossen befreien lassen können.“ Onkel Eberhard beendete das Gespräch mit der Bemerkung, Goldberg sei ihm nach Kriegsende bei Verhandlungen mit den englischen Besatzungsbehörden durchaus behilflich gewesen, es sei nicht seine Art, so etwas zu vergessen. Aber er sei doch froh, dass man solcher Hilfe kaum noch bedürfe, man habe es jetzt wieder mehr mit deutschen Behörden zu tun, der Respekt kehre zurück.

      Da sich diese Gespräche ständig bis auf unwesentliche Abweichungen wiederholten, merkte der kleine Georg, dass hier niemand mehr versuchte, andere zu überzeugen, vielmehr wurden unabänderliche Weltanschauungen verkündet. Die verstand der Junge kaum, aber er merkte sehr wohl, wie hartnäckig sich jeder darstellte: Mutter Agnes zurückhaltend, weil abhängig, Tante Luise gekränkt und aggressiv, Onkel Eberhard pragmatisch und Tante Emmi lieb, fromm und naiv.

      Dann gab es die Söhne und Töchter von Eberhard und Luise, sie waren deutlich älter als Georg und wurden Vettern und Kusinen genannt, waren aber eigentlich zweiten Grades. Der älteste war 1944 in Frankreich gefallen, durch Verrat, wie Tante Luise fest behauptete, Karl kämpfte mit dem Abitur und auch Peter ging schon auf das Gymnasium. Zwischen den ersten beiden Söhnen kamen zwei Töchter, die ältere, Gerda, war noch BDM-Führerin gewesen. Georg wich ihr aus, sie hatte ihn einmal bloßgestellt. Er hatte für sich ein angenehmes Gefühl entdeckt, wenn er im Bett seinen Penis berührte. Dabei hatte ihn Gerda erwischt und bei Tante Luise verpetzt. „Du musst unbedingt darauf achten, Agnes, dass Georg im Bett die Hände immer auf der Decke hat.“ Die Mutter schämte sich, und dafür fühlte sich Georg schuldig.

      Die jüngere Tochter, Bertha, hatte er sehr lieb. Einmal an einem bitterkalten Abend, als sie allein waren, durfte er zu ihr ins Bett schlüpfen. Da war es nicht nur warm, sondern sie roch auch sehr gut und fühlte sich zugleich weich und fest an, er schlief schnell ein.

      Die Lücke in dieser Großfamilie war so offensichtlich, dass es die Mutter überhaupt nicht nötig gehabt hätte, ihren Sohn ständig an das Fehlen des Vaters zu erinnern und mehr noch, von ihm zu erwarten, die Rolle des Beschützers zu übernehmen. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit Standesgenossen und Verwandten hatte sich Wilhelm v. Mallwitz schließlich nach Ausbruch der sowjetischen Offensive im Januar 1945 doch entschlossen, dem Rat seines Schwagers, des Fabrikanten Burgdorff, zu folgen und sich mit seinem Bulldog dessen Trek nach Westen anzuschließen. Die Mallwitzens wurden in Westfalen auf dem Gut des Vetters Eberhard aufgenommen, Luise allerdings machte spitze Bemerkungen, ob es sich denn für einen preußischen Edelmann schicke, im Angesicht des Feindes Haus und Hof zu verlassen. Dann posaunte die Propaganda heraus, dass es gelungen sei, den Ansturm der asiatischen Horden auf das schlesische Bergland zu brechen. Unter solchem Druck und bei eigenen Zweifeln entschied sich Mallwitz für einen Kompromiss: Seine schwangere Frau ließ er in Westfalen, er selber kehrte nach Schlesien zurück, und zwar – trotz seiner Behinderung – auf einem Fahrrad, alle anderen Verkehrsmittel waren inzwischen zu unsicher. Ende März kam er wieder in Weißstein an, das in der Tat noch einige Kilometer hinter der Front lag. Der Ortsgruppenleiter wurde unangenehm, redete von Fahnenflucht und Defaitismus, ließ sich aber mit dem Argument beeindrucken; ohne v. Mallwitz keine Aussaat, ohne Aussaat keine Ernte und ohne Ernte kein Endsieg. Mallwitz, der Vorarbeiter Jacques, ein belgischer Kriegsgefangener, die russischen Kriegsgefangenen und die Frauen der längst eingezogenen Landarbeiter machten sich an die Arbeit.

      Anfang Mai verschwand Jacques mit einem Pferd. Ein paar Nächte später sahen sie Feuerwerk über der Front, die Russen feierten ihren Sieg. Der Ortsgruppenleiter setzte sich ab, ein wilde Menge, deren Anführer sich als Kommunisten ausgaben, fing an, Vorratslager zu plündern und dann auch verlassene Häuser. Die Bank wurde besetzt, ein Tresor auf den Vorplatz gestürzt, aufgeschweißt und geleert. Aber der Pöbel traute sich nicht nach Weißstein, Wilhelm v.Mallwitz saß noch auf seinem Besitz. Er vergrub einige Wertgegenstände und ließ allen Alkohol bis auf einen Anstandsrest ausgießen. Diese kluge Maßnahme bewährte sich nach Ankunft der Russen am nächsten Tag, sie bekamen etwas zu trinken, aber in Maßen. Auf dem Gut kam es zwar zu Diebereien, aber nicht zu Gewalttaten. Hilfreich war sicher auch, dass die Gefangenen nichts gegen Mallwitz vorbrachten. Im Ort erschossen die Russen einige wirkliche oder angebliche Kommunisten, um deutlich zu machen: Plündern ist ein Privileg von Siegern. Nach einigen Tagen verschlechterte sich die Lage, und zwar zuerst für die gerade befreiten russischen Gefangenen, sie wurden verhaftet, verprügelt und abgeführt von einem Trupp, den Mallwitz als so etwas wie eine sowjetische Gestapo einordnete. Dann zogen die Russen ab, und es kamen Polen, die alles in Beschlag nahmen, was sie nur wollten. Es wurden Plakate angeschlagen, die sie im Namen der Siegermächte als neue Herren einsetzten. Den Deutschen wurde die Repatriierung nach Westen befohlen. Mallwitz hatte verloren und glaubte inzwischen auch, sich damit abfinden zu müssen. Am Abend vor der Abschiebung tauchte eine Gruppe von Polen auf, Männer, Frauen, Kinder und ein Anführer. Der erklärte, sie würden nun das Gut übernehmen und erst einmal die Befreiung feiern. Man schlachtete ein noch verbliebenes Schwein, warf Möbel aus dem Haus und zündete damit ein großes Feuer an. Ein Scheunentor wurde ausgehängt und auf dem Hof als Tafel aufgebockt. Da griff das Feuer auf die Scheune über, die inzwischen Betrunkenen grölten vor Freude. Um wenigstens den Anführer zur Besinnung zu bringen und die Landmaschinen aus der Scheune zu retten, rüttelte Mallwitz an dessen Schultern. Der empfand das als Angriff und schlug ihn zu Boden. Dann legten sie das Scheunentor auf den regungslosen Körper und tanzten darauf herum. Wilhelm v. Mallwitz starb noch in dieser Nacht.

      Das war der gemeinsame und schließlich von der Familie geglaubte Kern der Erzählungen und Briefe der überlebenden Ausgewiesenen. Das Pferd lieferte übrigens Jacques in Westfalen für Agnes ab und machte sich dann zu Fuß auf den Weg heimwärts nach Belgien.

      Georg v. Mallwitz verstand, so unerfahren er noch war, das Wesentliche: Um seine Familie, seinen Besitz zu retten, hatte sich sein Vater zwischen zwei Parteien schlechter Menschen geworfen und war dabei umgekommen. Er hatte sich als Einzelner einem Unheil entgegengestemmt und war gescheitert. Also musste er, Georg, sich noch besser schützen und immer auf der Hut sein. Er lernte, die Gespräche der Erwachsenen anhand seiner eigenen Erfahrungen zu beurteilen und damit auch ihre Behauptungen zu bewerten. Aus den Erzählungen der Erwachsenen und dann immer mehr aus seinen eigenen Beobachtungen entwickelte er sein Weltbild. Es stand zwar außer Frage, dass den Erwachsenen gehorcht werden musste, denn sie hatten immer recht. Aber da sie oft verschiedene Ansichten hatten und manchmal sogar stritten, konnte es nicht nur eine Wahrheit geben. Einig war man sich noch in der Furcht vor Kommunisten, Polen und Russen. Da hatte man es unter den Engländern besser, die hatten allerdings vorher alle Städte mit Bomben ausradiert und, was die Leute auf dem Land besonders nachtrugen, aus Flugzeugen auf pflügende Bauern geschossen. Auf dem Gut war zwar niemand verletzt worden oder gar umgekommen, aber das verdankte man dem Keller, in den man sich immer noch rechtzeitig hatte flüchten können.

      Dann waren da die Nazis, das waren Leute, die früher in Deutschland zu bestimmen hatten, was ganz schlimm ausgegangen war. Onkel Eberhard meinte, die hätten zu Anfang eigentlich bis auf einige Übertreibungen – die Juden und so – ganz vernünftig losgelegt, insbesondere die Landwirtschaft vorbildlich gefördert, seien aber 1938, spätestens jedoch 1941 größenwahnsinnig geworden. Die Tschechen, Polen und Franzosen hätten ja eine Lehre verdient gehabt, aber was hatten wir in Russland zu suchen? Und überhaupt hatte der Gefreite Hitler die Kriegführung verpatzt. Tante Luise betonte den Idealismus, die Opferbereitschaft und die fabelhafte Einheit des Volkes, das unter schwersten Belastungen bis zum letzten zusammengehalten hätte. Auch unter den Nazis sei die Mehrzahl immer anständig geblieben und hätte von irgendwelchen Untaten gar nichts gewusst. Mutter Agnes wiederum meinte, man hätte durchaus einiges gewusst, aber nichts machen können, weil die Nazis zu brutal waren. Für Tante Emmi schließlich waren Nazis wie Kommunisten gottloses, ordinäres Gesindel.

      Dabei war es Tante Emmi, der man verdankte, dass sie am Leben waren und das Schloss überhaupt noch stand. Kurz vor Kriegsende – oder 'Toresschluss', wie Onkel Eberhard es nannte, quartierte sich noch ein General mit seinem Stab ein. Die setzten sich ab, als die Front näher kam, und befahlen dem Volkssturm, das