In grauen Zonen. Christian Toepffer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Toepffer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738031447
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Zeit zu Zeit vor. Dieser Reineke lebte mit seiner Familie in einer Burg und kämpfte gegen mächtige und böse Feinde. Es ging hin und her, aber zum Schluss gewann er, weil er listig und noch gemeiner als seine Gegner war. Onkel Eberhard las all das mit offensichtlichem Behagen, was Georg nachdenklich machte. Reineke Fuchs führte sein Leben nicht nach den zehn Geboten, die Tante Emmi in ihren Andachten predigte. Er war ein erfolgreicher Sünder, und was noch schlimmer war, man konnte ihn dafür sogar mögen.

      Im Sommer gingen die Kinder auf die abgemähten Getreidefelder, um die liegen gebliebenen Ähren einzusammeln. Die meisten hatten ihre Fußsohlen im Lauf der warme Jahreszeit genügend abgehärtet um barfuß über die Stoppelfelder zu laufen, Georg trug Sandalen, aber auch er war sehr erfolgreich im Sammeln. Später im Jahr wurden die Äpfel gesammelt, die von den Bäumen am Rand der Landstraße herunter gefallen waren. Sobald einige Säcke zusammen waren, wurde auf dem Hof die Gulaschkanone angeheizt, und Bertha kochte Apfelmus. Wenn das Mus warm wurde, musste sie kräftig rühren, damit nichts anbrannte. Weil ihr heiß war und die Arbeit schwer, trug sie wenig unter ihrem Kittel, und viele Männer richteten ihre Arbeit so ein, dass sie oft an der Gulaschkanone vorbei gingen.

      Einmal traf Georg im Wald auf ein sich küssendes Paar, die beiden fuhren auseinander, es war Bertha mit einem Uniformierten. Trotz der einsetzenden Dämmerung sah Georg, wie Bertha rot wurde und dann den Finger auf den Mund legte. Also ein Geheimnis, und Georg freute sich, der Kusine einen Gefallen tun zu können. Irgendwann wurden die beiden dann doch von Anderen beobachtet und verpetzt. Nach dem Abendessen wurden die Vettern und Georg aus der Halle geschickt, und es begann ein Strafverfahren. Natürlich dürften die Mädchen junge Männer sehen, die der Familie bekannt und vertrauenswürdig seien. Aber Knutschen mit Unbekannten sei unpassend, besonders (und darauf legte Tante Luise besonderen Wert), wenn es sich um Engländer handle.

      Nach einigen Tagen besserte sich die Stimmung, Eberhard hatte nämlich herausbekommen, dass es sich nicht nur um einen Offizier, sondern sogar um einen Adligen handelte. Man beschloss, den jungen Mann in den Stand eines Bekannten zu versetzen, und lud ihn zum Tee ein. Er erschien in glänzender Uniform und begrüßte die älteren Damen Emmi, Luise und Agnes mit einem angedeuteten Handkuss, Eberhard mit einer tiefen Verbeugung, Gerda und Bertha mit einer leichteren. Den Vettern winkte er freundlich zu, und für Georg zwinkerte er kurz mit dem Auge. Die jungen Leute versuchten ihr Schulenglisch, für die älteren musste Agnes übersetzen. Zunächst redete man – natürlich – über das Wetter, über die Jagd und die Landwirtschaft im Allgemeinen, dann über die besonderen Verhältnisse in Westfalen und in Devon, wo der Vater des Offiziers seinen Besitz hatte. Eberhard und Emmi erzählten etwas aus der Geschichte des eigenen Schlosses, man unterließ es nicht, besonders auf das Bild des Ahnen hinzuweisen, der bei Waterloo gekämpft hatte. Luise warf noch etwas über den verschwundenen Säbel ein, aber das unterschlug Agnes in ihrer Übersetzung. Der Engländer begutachtete den Flügel und bat um Erlaubnis, etwas spielen zu dürfen, und trug etwas von Bach vor. Das gefiel, Onkel Eberhard schaute seine Frau an und nickte mit dem Kopf, womöglich hoffte er auch auf eine Quelle besserer Zigarren. Nach einer guten Stunde verabschiedete sich der Gast und wurde aufgefordert, doch einmal wiederzukommen. „Bertha spielt doch Querflöte, könne er sie nicht am Klavier begleiten?“ Bertha durfte ihn allein hinaus zu seinem Wagen bringen, sie wirkte sehr erleichtert. Nur Gerda giftete: „Die Engländer sind doch alle, besonders wenn sie gut aussehen, Sodomisten.“ Alle, die das Wort verstanden, wurden rot, das peinliche Schweigen wurde durch Karl beendet: „Wenn er anders veranlagt wäre, würde er sich doch nicht für Bertha interessieren.“ Georg fand den Engländer, den ersten, den er nicht nur kurz und von Ferne gesehen hatte, beeindruckend und wünschte im Stillen ihm und Bertha alles Gute. Sonst hatte er fast nichts verstanden, aber er freute sich, als die sich unbeobachtet glaubende Bertha ihrer Schwester die Zunge herausstreckte.

      Dass alle ja nur sein Bestes wollten, hörte Georg bis zum Überdruss. Tante Luise und Gerda wollten ihn abhärten und bedauerten, dass es kein Militär mehr gäbe, in dem weichliche und widersetzliche Träumer zu strammen, jungen Männern geschliffen würden. Tante Emmi wollte ihn gottesfürchtig, die Mutter ewig dankbar und Onkel Eberhard brauchte jemanden, bei dem er seine Gedanken abladen konnte, was Georg anregte, aber auch belastete. Und er litt mit seiner Mutter unter der Abhängigkeit von den Verwandten.

      Da brachte der nächste Besuch des englischen Offiziers eine Wende. Die Jüngeren hatten wenigstens ihr Schulenglisch, Bertha war inzwischen weit darüber hinaus, aber die Älteren hatten aus ihrer Jugend im Kaiserreich bestenfalls noch dunkle Erinnerungen an Französisch. Nur Mutter Agnes war als Tochter eines Diplomaten mehrsprachig aufgewachsen. Mit ihrer Hilfe konnte man sich entspannt unterhalten und begann, sich gegenseitig anzunehmen. Der Offizier lobte mehrfach Agnes‘ Englisch und vermittelte ihr schließlich, möglicherweise auf sanfte Empfehlung Berthas hin, eine Stelle als Übersetzerin bei der englischen Armee.

      Statt die Gastfreundschaft durch Arbeit im Haus, Garten und auf dem Hof zu vergelten, konnte Agnes nun Miete zahlen. Sie zogen aus dem Archiv in frei gewordene Räume im Seitenflügel, Georg rechnete sich das als Verdienst seiner guten Beziehungen zu Bertha und seiner Verschwiegenheit an, aber die Mutter pries eher die gute Erziehung, die sie in ihrem Elternhaus genossen hatte.

      Der Großvater war Diplomat gewesen, Agnes und ihre Schwester Anna hatten ihre Kindheit im Ausland unter der Obhut einer Schweizer Hauslehrerin verbracht. Besonders gern erzählte Agnes von Norwegen, das der Kaiser jeden Sommer auf seiner Yacht besuchte. Einmal war nicht nur der Großvater, sondern auch seine ganze Familie mit eingeladen worden. Die Mädchen durften mit am Tisch sitzen, noch zwei Kriege später veranlasste das Agnes zu erzieherischen Bemerkungen wie „Ich habe mit Kaisern und Königen gegessen“, wenn sie an den Tischmanieren Georgs etwas auszusetzen hatte. Wurde damals Republikaner. Jedenfalls mussten die Mädchen beim Kaiser einen guten Eindruck hinterlassen haben, denn er schenkte ihnen zum Abschied kleine goldene Broschen in Form eines stilisierten „W“ , Agnes trug ihre immer noch gern, obwohl der Großvater während des Krieges die Gunst des Kaisers verloren hatte.

      Der Großvater und der Finanzier Goldberg hatten mit einer Denkschrift in den Streit um den Einsatz von U-Booten gegen Handelsschiffe eingegriffen und dringend davor gewarnt, den Amerikanern einen Vorwand zum Eintritt in den Krieg zu liefern. Später machte er sich bei seinen Standesgenossen unbeliebt, als er vor Annexionen im Osten warnte, die doch nur noch mehr der sonst so unerwünschten Polen und Juden ins Reich bringen würde. Leider gerieten der Kaiser, die Regierung und die Öffentlichkeit immer mehr unter den Einfluss intriganter Scharfmacher. Da war die Rede von Spielernaturen, was Georg etwas verwirrte, weil gelegentlich auch lobend erwähnt wurde, dass der Großvater einmal sehr viel Geld beim Glücksspiel gewonnen hätte. Aber der Großvater hätte eben die Charakterstärke besessen, aufzuhören, bevor die Gewinnserie abbrach. Die kaiserliche Ungnade kränkte den Großvater umso mehr, als, wie von ihm befürchtet, die Militärs ohne Erfolg blieben und der Krieg verloren ging. Da konnte man vernünftigerweise nur noch geduldig versuchen, zu retten, was noch zu retten war. Zwar würden die Sieger schwere Friedensbedingungen auferlegen, aber Deutschland müsste bei weiterem, äußersten Widerstand mit einer vernichtenden Zerstörung rechnen.

      Der Großvater erhielt von der Republik die Aufgabe, die deutschen Interessen bei der Grenzziehung nach der Abstimmung in Oberschlesien zu vertreten. Das wollten sich die Polen mit Gewalt aneignen, obwohl sie die Abstimmung verloren hatten. Die Deutschen wehrten sich, und schließlich bestimmten die Siegermächte, dass das Gebiet geteilt werden sollte. In der Kommission, die die Grenze ziehen sollte, bevorzugten die Franzosen die Polen schamlos. Wenn Orte überwiegend deutsch waren, wurden sie aus wirtschaftlichen Gründen Polen zugesprochen. Aber zusammengehörige Industrien wurden zerschlagen, wenn es nur in irgendeinem Flecken eine polnische Mehrheit gab. Die übrigen in der Kommission vertretenen Länder sahen keinen Anlass, sich für den Kriegsverlierer einzusetzen, und hinter dem Großvater stand keine Macht. So niederdrückend das war, schlimmer traf ihn die Kritik aus jenen Kreisen, die er immer als die seinen empfunden hatte: Er sei einfach zu schlapp, ein Flaumacher vor, im und nach dem Krieg.

      Obwohl sonst wach für politische und gesellschaftliche Entwicklungen, blieb der Großvater, soweit es seine Familie betraf, fest bei den überkommenen Vorstellungen. Die Bestimmung der Frau war Ehe und Mutterschaft. Zwar hatten noch vor dem Krieg unverheiratete Tanten bequem von ihrem Anteil am Familienvermögen