Akka sagte ganz offen, sie fände, Daunenfeins Eltern und Geschwister seien keineswegs liebevoll gewesen, damals, als sie sie auf Öland zurückließen. Aber darin wollte ihnen Daunenfein nicht recht geben. »Was sollten sie wohl anderes tun, als sie sahen, daß ich nicht fliegen konnte?« sagte sie. »Sie konnten doch meinetwegen nicht auf Öland zurückbleiben!«
Um die Wildgänse zu bewegen, die Reise zu machen, begann Daunenfein von ihrem Heim draußen in den Schären zu erzählen. Es war eine Felseninsel. Wenn man sie in der Ferne sah, konnte sie aussehen, als sei da nichts weiter als Steine, kam man aber dahin, so entdeckte man das schönste Gras in Schluchten und Felsspalten. Und nach besseren Brutplätzen, als die in den Felsschluchten oder zwischen den Weidenbüschen dort, konnte man lange suchen. Das beste von allem aber war der alte Fischer, der da draußen wohnte. Daunenfein hatte gehört, daß er in seinen jungen Tagen ein eifriger Jäger gewesen war, der immer draußen zwischen den Schären lag und Vögel schoß. Aber jetzt in seinem Alter, wo seine Frau tot war und die Kinder die Heimat verlassen hatten, so daß er allein im Nest zurückgeblieben war, hatte er angefangen, die Vögel draußen auf seiner Schäre zu beschützen. Er gab nie einen Schuß auf sie ab und erlaubte auch nicht, daß andere es taten. Er ging von einem Vogelnest zum anderen, und wenn die Weibchen brüteten, holte er ihnen Futter. Niemand war bange vor ihm. Daunenfein war gar manches Mal in seiner Hütte gewesen und mit Brotkrumen gefüttert worden. Weil nun aber der Fischer so gut gegen die Vögel war, zogen sie in so großen Scharen nach der Schäre hinaus, daß es dort bald mit dem Platz knapp wurde. Kam man im Frühling zu spät dorthin, so konnte es vorkommen, daß alle Brutplätze besetzt waren. Deswegen hatten Daunenfeins Eltern und Geschwister von ihr fortreisen müssen.
Daunenfein bettelte so lange, bis sie ihren Willen bekam, obwohl die Wildgänse sehr wohl wußten, daß sie sich verspätet hatten und lieber geradeswegs gen Norden reisen sollten. Aber so ein Ausflug nach den Schären brauchte die Reise ja nur um einen einzigen Tag zu verzögern.
Sie brachen eines Morgens auf, nachdem sie sich mit einer guten Mahlzeit gestärkt hatten, und flogen gen Osten über den Mälar. Der Junge war sich nicht klar darüber, wohin sie nun kamen, aber er beobachtete, daß je weiter sie nach Osten kamen, es um so lebhafter auf dem See wurde, und die Küste um so dichter bebaut war.
Schwerbeladene Prähme und Schuten, Boote und Fischkutter waren auf dem Wege gen Osten, und eine Menge schöner, weißer Dampfer kamen ihnen entgegen oder fuhren an ihnen vorüber. Drinnen an Land liefen alle Landstraßen und Eisenbahnschienen demselben Ziel zu. Da draußen im Osten mußte irgendein Ort sein, dem sie alle jetzt in der frühen Morgenstunde zustrebten.
Auf einer der Inseln sah der Junge ein großes, weißes Schloß und ein wenig östlich davor begannen Villen die Ufer zu bedecken. Zu Anfang lagen längere Zwischenräume zwischen den einzelnen Häusern, nach und nach aber wurden sie dichter, und schließlich stand da am ganzen Ufer entlang eine Villa neben der anderen. Es waren Gebäude allerlei Art. Hier lag ein Schloß und da eine Hütte. Hier erhob sich ein langer Herrenhof und dort eine Villa mit vielen kleinen Türmen. Einige waren von Gärten umgeben, die meisten aber lagen ohne Gärten in dem Laubwald, der das Ufer umkränzte. Aber wie verschieden sie auch waren, etwas war ihnen allen eigen, sie waren nicht einfach und ernsthaft und alltäglich wie andere Häuser, sondern mit schönen, starken Farben, grün und blau und weiß und rot gemalt, wie Puppenhäuser.
Der Junge saß da und sah hinab auf die lustigen Villen am See, als Daunenfein einen Schrei ausstieß. »Jetzt weiß ich, wo wir sind! Dort liegt die Stadt, die auf dem Wasser schwimmt.«
Da sah Niels hinaus, konnte aber anfänglich nichts sehen als helle Dächer und Dämpfe, die über dem Wasser wogten. Bald aber konnte er hohe Türme unterscheiden und hier und da ein Haus mit vielen Fenstern. Sie tauchten auf und verschwanden wieder, während die Nebel hierhin und dahin trieben. Aber er sah keinen Strand. Es schien alles auf dem Wasser zu ruhen.
Als sich der Junge der Stadt näherte, sah er die lustigen Puppenhäuser drinnen am Lande nicht mehr. Statt dessen waren die Ufer mit rußigen Fabrikgebäuden bedeckt. Hinter hohen Bretterzäunen dehnten sich große Kohlenhaufen und Holzstapel aus, und an schwarzen, schmutzigen Brücken lagen schwerfällige Frachtdampfer. Über das Ganze aber breiteten sich die schimmernden durchsichtigen Dächer aus, und sie bewirkten, daß alles so groß und gewaltig und fremd aussah, daß es fast schön wurde.
Die Wildgänse flogen an Fabriken und Frachtdampfern vorüber und näherten sich den nebelumhüllten Türmen. Da sanken plötzlich alle Dächer bis zum Wasser hinab, mit Ausnahme von einigen leichten, dünnen, fein rosenfarbenen, die über ihren Köpfen schwebten. Die anderen lagen da und wogten über Land und Wasser. Sie verbargen vollständig den Grundwall der Häuser und die unteren Teile, während man die obersten Stockwerke, die Dächer, Türme, Giebel und Frontispize deutlich sehen konnte. Einige Häuser erschienen dadurch so hoch, daß man an den Turm von Babel denken mußte. Der Junge konnte ja begreifen, daß sie auf Hügeln und Höhenzügen erbaut waren, aber die sah er nicht, er sah nur die Gebäude, die über den Dächern schwebten. Die Dächer waren schimmernd weiß, und die Häuser lagen schwarz und finster da, denn die Sonne stand im Osten und beschien sie nicht.
Niels begriff, daß er über eine große Stadt dahinschwebte, denn überall sah er Dächer und Türme aus dem Nebel aufragen. Zuweilen entstand eine Öffnung in den wogenden Nebeln, und er sah hinab in einen rinnenden, brausenden Strom, konnte aber nirgends Land erblicken. Es war alles schön zu sehen, doch fühlte er sich fast beklemmt, wie dies der Fall ist, wenn man Dingen begegnet, die man nicht versteht.
Sobald er die Stadt hinter sich hatte, war die Erde nicht mehr von Nebeln verhüllt; man konnte wieder deutlich den Strand, das Wasser und die Inseln unterscheiden. Da wandte er sich um, in der Hoffnung, die Stadt jetzt besser sehen zu können, aber das gelang ihm nicht. Sie sah jetzt nur noch verzauberter aus. Der Sonnenschein färbte die Dächer, so daß sie ganz fein rosenfarben, blau und gelb dahinschwebten. Die Häuser waren so weiß, als seien sie aus Licht gebaut, während Fenster und Türme wie Feuer lohten. Und alles floß auf dem Wasser zusammen, so wie vorhin.
Die Wildgänse flogen geradeswegs gen Osten. Anfangs sah es fast so aus, wie am Mälar. Zuerst flogen sie über Fabriken und Werkstätten. Dann sah man eine ganze Weile keine Villen am Ufer. Es wimmelte von Dampfern und Segelschiffen, aber jetzt kamen sie aus dem Osten und gingen nach Westen, in die Stadt hinein.
Sie flogen weiter, und statt der schmalen Mälarbuchten und der kleinen Inseln breiteten sich eine weitere Wasserfläche und größere Inseln unter ihnen aus. Das Festland wich zurück, bald war es nicht mehr zu sehen. Der Pflanzenwuchs wurde spärlicher, die Laubbäume seltener, die Föhren gewannen die Übermacht. Die Villen hörten ganz auf, und statt ihrer sah man Bauerhäuser und Fischerhütten.
Sie flogen noch weiter, und jetzt waren da keine von den großen, bewohnten Inseln mehr, nur eine Unendlichkeit von kleinen Schären waren über das Wasser ausgestreut. Das Land dämmte keine Buchten mehr ein. Groß und unbegrenzt lag das Meer vor ihnen.
Hier draußen ließen sich die Wildgänse auf einer Felsinsel nieder, und als sie festen Boden unter den Füßen hatten, wandte sich der Junge an Daunenfein: »Was für eine große Stadt war es, über die wir dahinflogen?« fragte er. »Ich weiß nicht, wie sie bei den Menschen heißt,« sagte Daunenfein. »Wir Graugänse nennen sie die Stadt, die auf dem Wasser schwimmt.«
Die Schwestern.
Daunenfein hatte zwei Schwestern, Flügelschön und Goldauge. Es waren starke und kluge Vögel, aber ihr Federkleid war nicht so weich und glänzend wie Daunenfeins, und ihr Sinn war nicht so sanft und milde. Schon als sie noch kleine, gelbe Gössel waren, hatten Eltern und