Sie war im Schatten unter dem großen Ahorn an der Einfahrt zu dem Hofe stehen geblieben und nun sah sie sich um. Und wie sie dastand, geschah das Merkwürdige, daß eine Schar Tauben geflogen kam und sich neben ihr niederließ.
Sie konnte kaum glauben, daß es wirkliche Vögel waren, denn Tauben pflegen nie nach Sonnenuntergang auszufliegen. Der helle Mondschein mußte sie wohl geweckt haben. Sie hatten offenbar geglaubt, daß es schon Tag sei und waren aus dem Taubenschlag herausgeflogen, aber dann waren sie verwirrt geworden und hatten sich nicht wieder heimfinden können. Als sie nun einen Menschen erblickten, flogen sie zu ihm hin, als wollten sie ihn um Hilfe bitten.
Zu Lebzeiten ihrer Eltern waren immer eine Menge Tauben auf dem Hof gewesen, denn die Tauben hatten auch zu den Tieren gehört, die ihr Vater unter seinen besonderen Schutz genommen hatte. Wenn nur die Rede davon war, eine Taube zu schlachten, wurde er schlechter Laune. Sie freute sich herzlich darüber, daß die schönen Vögel kamen und sie in der alten Heimat begrüßten. Wer weiß, vielleicht waren die Tauben zur Nachtzeit ausgeflogen, um ihr zu zeigen, daß sie die gute Heimstätte nicht vergessen hatten, die sie einst hier gehabt.
Oder hatte vielleicht der Vater seine Vögel mit einem Gruß zu ihr geschickt, damit sie sich nicht so ungemütlich und verlassen fühlen sollte, wenn sie in ihr ehemaliges Heim kam?
Während sie hierüber nachdachte, wurde die Sehnsucht nach alten Zeiten so stark in ihr, daß ihr Tränen in die Augen traten. Es war ein gutes Leben gewesen, das sie auf dem Hofe geführt hatten. Sie hatten Arbeitswochen gehabt, aber auch Festzeiten, sie hatten den Tag hindurch viel zu tun gehabt, aber des Abends hatten sie um die Lampe versammelt gesessen und Tegner und Runeberg, Frau Lenngren und Frederika Bremer gelesen. Sie hatten Korn gebaut, aber auch Rosen und Jasmin gepflanzt; sie hatten Flachs gesponnen, aber beim Spinnen hatten sie Volkslieder gesungen. Sie hatten sich mit Weltgeschichte und Grammatik abgequält, aber sie hatten auch Komödie gespielt und Verse gedichtet; sie hatten am Feuerherd gestanden und Essen gekocht, aber sie hatten auch Klavier und Flöte und Gitarre und Violine spielen gelernt. Sie hatten in einem Garten Kohl und Rüben und Erbsen und Bohnen gepflanzt, aber sie hatten auch noch einen anderen Garten gehabt, der voller Äpfel und Birnen und allen möglichen Beeren gewesen war. Sie hatten einsam gelebt, aber gerade deswegen hatten sie in Märchen und Sagen gelebt. Sie hatten eigengemachte Stoffe getragen, aber daher hatten sie auch sorgenfrei und unabhängig leben können.
»Nirgends auf der Welt verstehen sie es, ein so gutes Leben zu führen wie auf so einem kleinen Herrenhof in meiner Jugend,« dachte sie. »Da war Arbeit zu seiner Zeit und Vergnügen zu seiner Zeit und Freude zu allen Zeiten. Wie gern würde ich doch hierher zurückkehren!« sagte sie. »Jetzt, wo ich den Hof gesehen habe, ist es schwer, wieder wegzureisen.«
Und dann wandte sie sich an die Taubenschar und sagte zu den Vögeln, indem sie über sich selbst lachte, während sie es sagte: »Wollt ihr nicht zu meinem Vater zurückfliegen und ihm sagen, daß ich Heimweh habe? Jetzt bin ich lange genug an fremden Orten umhergereist. Fragt ihn doch, ob er nicht dafür sorgen will, daß ich bald wieder in die Heimat zurückziehen kann!«
Kaum waren die Worte gesprochen, als der ganze Taubenschwarm sich in die Luft emporschwang und davonflog. Sie versuchte, den Vögeln mit den Augen zu folgen, sie verschwanden aber sofort. Es war als habe der ganze weiße Schwarm sich in der mondhellen Luft aufgelöst.
Kaum waren die Tauben verschwunden, als sie laute Schreie aus dem Garten vernahm, und als sie eiligst dahinlief, sah sie etwas sehr Merkwürdiges. Da stand ein einzig kleiner Knirps, kaum eine Spanne groß, und kämpfte mit einer Nachteule. Anfangs war sie so überrascht, daß sie sich kaum rühren konnte. Als aber der Kleine immer jammervoller schrie, legte sie sich rasch ins Mittel und trennte die Kämpfenden. Die Eule schwang sich auf einen Baum, aber das Männlein blieb auf dem Kiesweg stehen, ohne sich zu verstecken oder davonzulaufen. »Haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe!« sagte er. »Aber es war dumm, daß Sie die Eule fortfliegen ließen. Ich kann nicht wegkommen, denn sie sitzt da oben auf dem Baum und lauert mir auf!«
»Freilich, das war gedankenlos von mir, daß ich sie wegfliegen ließ. Kann ich dich aber nicht dahin begleiten, wo du zu Hause bist?« sagte sie, die Märchen zu dichten pflegte, und nun nicht wenig erstaunt war, so unvermutet mit einem der Männlein in Unterhaltung gekommen zu sein. Aber eigentlich war sie gar nicht einmal so erstaunt. Es war, als habe sie die ganze Zeit, während sie hier im Mondschein vor ihrer alten Heimat auf und nieder gegangen war, erwartet, daß sie etwas Merkwürdiges erleben würde.
»Eigentlich hatte ich gedacht, die Nacht hier auf dem Hofe zu bleiben,« sagte der Kleine. »Wenn Sie mir nur einen sichern Platz zum Schlafen zeigen könnten, würde ich nicht vor Tagesanbruch nach dem Walde zurückkehren.« – »Soll ich dir einen Platz zum Schlafen zeigen? Wohnst du denn nicht hier?« – »Ich kann mir denken, daß Sie mich für ein Heinzelmännchen halten!« sagte das Männlein jetzt. »Aber ich bin ein Mensch, so wie Sie; ich bin nur von einem Heinzelmännchen verwandelt worden.« – »Das ist doch das Sonderbarste, was ich je im Leben gehört habe. Kannst du mir nicht erzählen, wie sich das zugetragen hat?«
Niels Holgersen hatte nichts dagegen, seine Abenteuer zu erzählen, und seine Zuhörerin wurde, je weiter die Erzählung fortschritt, immer erstaunter und erfreuter. »Nein, welch ein Glück, daß ich hier jemand treffe, der auf einem Gänserücken durch ganz Schweden gereist ist!« dachte sie. »Alles, was er da erzählt, kann ich ja in mein Buch schreiben. Jetzt brauche ich mir deswegen keine Sorge mehr zu machen. Es war wirklich gut, daß ich nach Hause gereist bin! Wenn ich bedenke, daß die Hilfe da war, sobald ich nach dem alten Hof kam!« sagte sie zu sich selbst.
Im selben Augenblick durchzuckte sie ein Gedanke, den zu Ende zu denken sie kaum den Mut hatte. Sie hatte ihrem Vater durch die Tauben sagen lassen, daß sie Heimweh nach dem alten Hause habe, und gleich darauf war die Hilfe für das gekommen, worüber sie schon so lange nachgegrübelt hatte. Konnte das die Antwort ihres Vaters auf ihre Bitte sein?
XLIX. Das Gold auf der Schäre
Auf dem Wege nach dem Meer.
Freitag, 7. Oktober.
Die Wildgänse waren, seit sie ihre Herbstreise angetreten hatten, beständig geradeswegs gen Süden geflogen; aber als sie Fryksdalen verließen, schlugen sie eine andere Richtung ein und flogen über das westliche Värmland und Dalsland auf Bohuslän zu. Das wurde eine vergnügliche Reise. Die jungen Gänse hatten nun so gute Übung im Fliegen bekommen, daß sie nicht mehr über Müdigkeit klagten, und Niels Holgersen gewann allmählich seine gute Laune wieder. Er war froh, daß er mit einem Menschen gesprochen hatte, denn es hatte ihn aufgemuntert, daß die Schriftstellerin zu ihm gesagt hatte, wenn er nur so wie bisher fortfahre, gut gegen alle zu sein, könne es ihm nicht schlecht ergehen. Wie er seine rechte Gestalt wieder erlangen würde, das konnte sie ihm nicht sagen, aber sie hatte ihm einen guten Teil von seiner alten Hoffnung und seinem Vertrauen wiedergegeben und das bewirkte sicher, daß er jetzt ausfindig gemacht hatte, wie er den großen Weißen von der Rückkehr in die Heimat abhalten konnte.
»Weißt du was, Gänserich Martin,« sagte er, während sie hoch oben in der Luft dahinflogen, »es wird doch gewiß recht langweilig für uns, wenn wir den ganzen Winter zu Hause bleiben sollen, jetzt, wo wir eine solche Reise mitgemacht haben. Ich überlege gerade, ob wir nicht mit den Wildgänsen ins Ausland reisen sollten.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein,« sagte der Gänserich und erschrak sehr, denn jetzt, wo er gezeigt hatte, daß er imstande war, mit den Wildgänsen ganz bis nach Lappland hinaufzufliegen, hatte er nichts mehr dagegen, sich wieder in der Gänsebucht in Niels Holgersens Kuhstall zur Ruhe zu setzen.
Der