»Ob er wohl wirklich so wenig gefährlich sein sollte, wie er sagt?« dachte die Nachteule. »Ich will doch lieber einen Versuch machen.« Sie schwang sich in die Luft empor, und einen Augenblick später hatte sie die Krallen in Niels Holgersens Schulter geschlagen und hackte nach seinen Augen. Niels hielt eine Hand vor die Augen und suchte sich mit der anderen zu befreien. Gleichzeitig schrie er aus Leibeskräften um Hilfe. Er merkte, daß er sich wirklich in Lebensgefahr befand, und er sagte zu sich selbst, daß es diesmal sicher mit ihm aus sein würde.
*
Aber nun muß ich erzählen, wie merkwürdig es sich traf, daß gerade in demselben Jahr, als Niels Holgersen mit den Wildgänsen reiste, in Schweden eine Schriftstellerin war, die ein Buch über ihre Heimat schreiben sollte. Es sollte so ein Buch sein, das die Kinder in den Schulen lesen konnten. Hierüber hatte sie nun von Weihnacht bis zum Herbst nachgedacht, aber sie hatte noch nicht eine einzige Zeile von dem Buch geschrieben, und schließlich war sie des Ganzen so überdrüssig gewesen, daß sie zu sich selbst sagte: »Hierzu bist du nicht zu gebrauchen, setze dich lieber hin und dichte Geschichten und Märchen, wie du es sonst getan hast, und laß jemand anders dies Buch schreiben, denn es soll lehrreich und ernsthaft sein, und es darf kein unwahres Wort darin stehen!«
Sie war eigentlich entschlossen, ihr Vorhaben aufzugeben, aber sie hatte sich so darauf gefreut, etwas Schönes über Schweden zu schreiben, daß es ihr schwer wurde, den Gedanken ganz aufzugeben. Schließlich kam es ihr in den Sinn, daß sie vielleicht deswegen nicht mit der Arbeit zustande kommen könne, weil sie in einer Stadt saß und nichts weiter vor sich sah als Straßen und Mauern. Wenn sie aufs Land hinausreiste, wo sie Wälder und Felder sehen könne, würde es vielleicht besser gehen.
Sie stammte aus Värmland und war sich ganz klar darüber, daß sie das Buch mit dieser Landschaft beginnen lassen wollte. Und vor allen Dingen wollte sie von dem Hof erzählen, auf dem sie herangewachsen war. Es war ein altmodischer Herrenhof, der weltabgeschieden dalag, und auf dem sich viele altertümliche Sitten erhalten hatten. Sie dachte, es würde die Kinder amüsieren, von den vielen verschiedenen Beschäftigungen zu hören, die einander im Laufe des Jahres ablösten. Sie wollte ihnen erzählen, wie Weihnacht und Neujahr und Ostern und das Johannisfest in ihrem Hause gefeiert worden war, was für Möbel und Hausgerät sie gehabt hatten, und wie es in Küche und Vorratskammer, auf der Tenne und in der Scheune, im Stall und in der Backstube ausgesehen hatte. Aber als sie sich dann anschickte, darüber zu schreiben, wollte die Feder nicht vom Fleck. Sie konnte nicht begreifen, woher es kam, aber es war nun einmal so.
Es stand ja freilich im Geiste alles so deutlich vor ihr, als lebe sie noch mitten dazwischen. Aber sie sagte sich selbst, wenn sie nun doch einmal aufs Land reisen wolle, so könne sie ebensogut nach dem alten Hof hinausfahren und sich dort noch einmal umsehen, ehe sie darüber schrieb. Sie war seit vielen Jahren nicht dort gewesen, und eine Veranlassung, dahin zu reisen, war ihr willkommen. Im Grunde hatte sie immer Heimweh nach dem Heim ihrer Kindheit, wo sie auch sein mochte. Sie sah sehr wohl ein, daß es andere Orte gab, die schöner und auch besser waren, aber nirgends fand sie den Frieden und die Traulichkeit, die stets auf dem alten Herrenhof gewaltet hatte.
Es war indessen nicht so ganz leicht für sie, in die alte Heimat zu reisen, wie man hatte glauben sollen, denn der Hof war an Leute verkauft, die sie nicht kannte. Sie zweifelte freilich nicht daran, daß man sie freundlich aufnehmen würde, aber sie kam ja nicht nach dem alten Heim, um da zu sitzen und mit fremden Leuten zu schwatzen, sondern um sich so recht in das zu vertiefen, wie es in alten Zeiten gewesen war. Deswegen richtete sie es so ein, daß sie eines Abends spät dort eintraf, als die Arbeit beendet und das Gesinde schon ins Haus gegangen war.
Sie hätte nie gedacht, daß es so wunderlich sein könne, nach Hause zu kommen. Während sie im Wagen saß und sich auf dem Wege nach dem alten Hof befand, hatte sie ein Gefühl, als werde sie mit jeder Minute jünger und jünger, und bald war sie nicht mehr eine alte Person, deren Haar zu ergrauen begann, sondern ein kleines Mädchen mit kurzen Röcken und einem langen flachsblonden Zopf, der ihr auf dem Rücken hinabfiel. Wie sie so dahinfuhr und jedes Gehöft, an dem sie vorüberfuhr, wieder erkannte, war es ihr, als müsse alles daheim wieder ganz so werden wie in alten Zeiten. Der Vater und die Mutter und die Geschwister würden auf der Treppe stehen und sie empfangen, und die alte Haushälterin würde ans Fenster laufen, um zu sehen, wer da gefahren kam, und Nero und Freya und noch ein paar andere Hunde würden herbeistürzen und an ihr emporspringen.
Je mehr sie sich dem Hofe näherte, um so fröhlicher wurde sie. Es war Herbst und eine geschäftige Zeit mit einer Menge Arbeit stand bevor, aber gerade diese verschiedenen Arbeiten bewirkten, daß es daheim nie langweilig oder einförmig wurde. Auf dem Wege dahin hatte sie gesehen, daß die Leute dabei waren, Kartoffeln aufzunehmen, und das würden sie jetzt daheim wohl auch tun. Dann mußten zuerst Kartoffeln gerieben und Kartoffelmehl gemacht werden. Es war ein milder Herbst gewesen. Sie hätte gern gewußt, ob die Ernte aus dem Garten schon eingebracht war. Der Kohl stand jedenfalls noch draußen. Ob wohl der Hopfen schon gepflückt war, und ob man schon alle Äpfel abgenommen hatte?
Wenn sie nur nicht gerade beim großen Hausputz waren! Denn der Herbstmarkt stand vor der Tür. Zum Jahrmarkt mußte das ganze Haus blitzblank sein, der wurde als großes Fest angesehen, namentlich von dem Gesinde. Es war auch wirklich ein Vergnügen, am Abend vor dem Markt in die Küche hinauszukommen und den frisch gescheuerten, mit Wacholderzweigen bestreuten Fußboden zu sehen und die frisch getünchten Wände und das blanke Kupfergerät oben unter der Decke.
Aber wenn der Jahrmarkt vorüber war, kehrte noch keine Ruhe ein. Dann mußte ja der Flachs gebrochen werden. Der Flachs hatte während der Hundstage zum Trocknen auf einer Wiese ausgebreitet gelegen. Jetzt wurde er in die alte Backstube geschafft, und der große Backstubenofen wurde geheizt, damit der Flachs dörren sollte. Und wenn er dürre genug war, wurde eines Tages zu allen Nachbarfrauen geschickt. Sie setzten sich vor die Backstube und machten sich daran, den Flachs zu brechen. Sie schlugen mit Hecheln darauf los, um die feinen, weißen Fasern aus dem dürren Stroh herauszulösen. Die Frauen wurden bei der Arbeit ganz grau von Staub. Ihr Haar und ihre Kleider saßen voll von Spreu, aber sie waren trotzdem vergnügt. Den ganzen Tag lärmten die Hecheln und die Münder standen keinen Augenblick still. Wenn man in die Nähe der alten Backstube kam, klang es, als hause ein gewaltiger Sturm dadrinnen.
Nach dem Flachshecheln kamen die große Hartbrotbackerei, die Schafschur und der Umzugtag des Gesindes an die Reihe. Im November standen dann arbeitsreiche Schlachttage bevor, wo Fleisch eingesalzen wurde, wo man Blutwurst stopfte, Blutbrot buk und Lichte goß. Die Nähterin, die die eigengewebten, wollenen Kleider nähte, pflegte auch um diese Zeit zu kommen, und es waren ein paar fröhliche Wochen, wenn alle Dienstmädchen im Hause zusammen saßen und nähten. Der Schuster, der die Schuhe für den ganzen Hausstand anfertigte, saß zur selben Zeit drüben in der Knechtstube und arbeitete, und man war's nie müde, ihm zuzusehen, wie er das Leder zuschnitt und versohlte und Flicken aufsetzte und Ringe in die Schnürlöcher einschlug.
Aber die größte Geschäftigkeit kam doch um Weihnachten. Der Luzientag, an dem das Stubenmädchen in weißem Kleide mit brennenden Lichtern im Haar umherging und das ganze Haus um fünf Uhr des Morgens zum Kaffee einlud, war gleichsam das Zeichen, daß man in den nächsten vierzehn Tagen nicht auf viel Schlaf würde rechnen können. Jetzt mußte Weihnachtsbier gebraut und Fische ausgelaugt und die Weihnachtsbäckerei und das Weihnachtsreinemachen vorgenommen werden.
Sie stand in ihren Erinnerungen mitten zwischen dem Backen, umgeben von Honigkuchen und Pfeffernüssen, als der Kutscher bei der Einfahrt in die Allee die Pferde anhielt, wie sie ihn gebeten hatte. Sie fuhr wie aus einem Traum in die Höhe. Ihr war ganz unheimlich zumute, wie sie am späten Abend ganz allein dasaß; eben hatte sie sich noch von allen ihren Lieben umgeben geglaubt. Als sie aus dem Wagen stieg und die Allee hinaufging, um unbemerkt in ihr altes Heim zu gelangen, empfand sie so bitter den Unterschied zwischen ehedem und jetzt, daß sie die größte Lust hatte, wieder umzukehren. »Was kann es nützen, daß ich hierher komme? Es kann hier ja doch nicht so sein wie in alten Zeiten,« dachte sie.
Aber da sie nun soweit gekommen war, meinte sie, den Hof müsse sie sich doch einmal ansehen, und sie ging weiter, obwohl ihr mit jedem Schritt schwerer ums Herz wurde.
Sie