"Wir schaffen das". Benjamin Webster. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Webster
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745097009
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daneben, der Nummer 6, hatte man sich schon daran gewöhnt, das die Jungs aus der Nummer 4 nachts grölend nach Hause kamen. Nicht selten sangen sie alte Nazilieder oder Parolen. Nur einer hielt dagegen, das war Ulf Skiskibowsky. Er war Sohn polnischer Einwanderer, die es nach dem Krieg hierher verschlagen hatte. Dazu muss man auch sagen, dass seine Eltern aus dem Sudetenland vertrieben wurden, was bei der Rechten Szene für Respekt sorgte. Ulf hatte sich schon das ein oder andere Mal, die Söhne von Danner vorgenommen und ihnen klar gemacht, dass sie nicht alleine in dieser Strasse wohnten. Vater Danner sagte dann immer, wenn sie blutende Nase hatten: „Was für Schlappschwänze habe ich da groß gezogen. Seid ihr Männer oder Memmen. Ein Deutscher heult nicht, sondern schlägt zurück. Ein Deutscher ist flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl, merkt euch das.“ Ausdrücke, die jeder von uns schon einmal, in einem anderen Zusammenhang gehört hat und nicht tot zu kriegen sind. Wie dem auch sei, von Haus Nummer vier ging immer wieder Gefahr aus. Das sollte in den nächsten Monaten noch schlimmer werden. Wir werden noch im Laufe der Zeit, noch einiges von ihnen hören. Helle Aufregung, gab es Anfang März in der Warschauer Strasse. Vor den drei leer stehenden Gebäuden Nummer 112, 114 und 116, hielten plötzlich mehrere LKWs und Transporter. Eine Gerüstbaufirma lud Gerüste ab und stellte sie über die drei Gebäude hinweg auf. Überall standen Container, in denen alte Türen und Fenster flogen. Auch Teppichböden und alte Küchenteile wurden entfernt. Und zum Schluss, flogen von oben alte Toilettenschüsseln samt Spülungen aus den Fenstern. Krach und Staub machte sich breit und das ging vier Wochen so. Dann kehrte wieder Ruhe ein. Zuerst dachten alle Bewohner, die Stadt würde die drei Häuser einreißen, aber dem war nicht so. Im Gegenteil, sie wurden saniert. Keiner wusste, wem plötzlich die alten, baufälligen Häuser gehörten und wer die Sanierung beschlossen hatte. Die wildesten Gerüchte schossen ins Kraut. Einmal war es ein Hedge Fonds, der alles gekaut hatte, ein anderes Mal waren es die Türken oder Russen, die sich alles einverleibt hätten. Selbst im Gemeindezentrum wusste man nicht wer die Baumaßnahmen angeordnet hatte. Ein Mantel des Schweigens lag auf dieser Aktion. Alle in der Strasse gingen davon aus, dass hier neue Wohnungen entstehen würden, so zumindest hatte es den Anschein. Dagegen hatte ja keiner etwas einzuwenden, denn neuer Wohnraum war immer Willkommen. Doch dem war nicht so. Am Dienstagmorgen gegen 8:15 Uhr betrat Dr. Walter das Büro des Gemeindezentrums. Die drei Sozialarbeiter waren sichtlich überrascht und nach der Begrüßung fragte die Leiterin Andrea Vogler: „Was führt sie zu uns, Herr Dr. Walter? Liegen irgendwelche Beschwerden gegen uns vor?“ Dr. Walter bat sie alle drei in Andreas Büro und schloss die Tür hinter sich. Dann meinte er mit ernster Miene: „Was ich ihnen jetzt erzähle, ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, jedenfalls im Augenblick noch nicht.“ Dabei sah er jeden Einzelnen nacheinander an und fuhr fort: „Sie wissen ja das in den Häusern 112, 114 und 116 umfangreiche Sanierungsmaßnamen vorgenommen werden. Auch wird in den nächsten Tagen noch die Nummer 124 umgebaut. Der Berliner Senat hat beschlossen, dass in diesen Räumlichkeiten, Asylunterkünfte und ein Islamisches Zentrum erstellt werden. Insgesamt gibt es Unterkünfte für 180 Flüchtlinge und Asylbewerber.“ Ungläubig sahen sie Dr. Walter an. Andrea fragte: „Das ist nicht ihr Ernst?“ Dr. Walter nickte nur und antwortete: „Leider, doch. Ich habe es erst gestern Abend erfahren.“ Andrea: „Deshalb hat man auch das Gemeindezentrum gegründet, wir sollen uns bestimmt um die Asylanten kümmern und nicht explizit, um die Bewohner des Frankfurter Viertels.“ Dr. Walter: „Sie sind Beamte und müssen das tun, was ihr Dienstherr von ihnen verlangt. Und wenn sie nicht bereit dazu sind, dann stecke ich sie ins Archiv und lasse sie bis an ihr Lebensende Akten sortieren. Ich denke, das wollen sie doch nicht wirklich?“ Ole Harmsen fragte: „Haben die Herren da oben auch daran gedacht, was dieses Asylantenheim auslösen kann? Wir haben in der Strasse sehr viele Rechtsradikale, die vor nichts zurückschrecken.“ Dr. Walter: „Deshalb muss alles so lange wie möglich unter Verschluss bleiben. Wenn erst einmal die Leute eingezogen sind, dann sind sie eben da. Ein paar Tage später haben sich alle daran gewöhnt und alles ist in Ordnung.“ Sascha bemerkte: „Wenn sie sich da Mal nicht täuschen. Sie kennen die Leute im Viertel nicht. So schnell geben die nicht klein bei. Sie sollten schon einmal einen Notfallplan erstellen, für den Fall, dass es zu Ausschreitungen kommt.“ Dr. Walter: „Soweit wird es nicht kommen. Und dafür werden sie sorgen. Mit Umsicht und Fingerspitzengefühl, lässt sich einiges verhindern.“ Andrea: „Ich finde es nicht richtig, was der Senat hier macht. In der Strasse wohnen gerade einmal etwas mehr wie 120 Menschen und sie setzten ihnen 180 Asylanten vor die Nase. Da ist doch Krawall vorprogrammiert. Die Bewohner fühlen sich hintergangen und werden das nicht so einfach hinnehmen. Sie werden sich Wohl oder Übel, auf Gewalt einstellen müssen.“ Dr. Walter: „Das sehe ich anders. So lange niemand von den Unterkünften weiß, so lange ist es auch friedlich im Viertel. Bedenken sie, es wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Sind die Flüchtlinge erst einmal eingezogen, dann lässt es sich sowieso nicht mehr ändern. Und nun ist Schluss mit der Diskussion. Herr Harmsen, sie organisieren Kitaplätze und die Einschulungen für die Kinder. Für die Erwachsenen, Deutschkurse. Herr Brams, sie sorgen dafür, dass für die Jugendlichen entsprechende Freizeitaktivitäten vorhanden sind. Frau Vogler, sie kümmern sich um das leibliche Befinden der Leute. Ich werde ihnen noch die entsprechenden Unterlagen zukommen lassen. Es sind ja noch sechs Wochen Zeit, bis zum Einzug. So, und nun muss ich wieder zurück ins Büro, da wartet noch jede Menge Arbeit auf mich. Und wie gesagt, es darf nichts an die Öffentlichkeit kommen. Ich denke, sie haben mich verstanden. Na denn, frohes schaffen. Auf Wiedersehen.“ Er gab jedem noch die Hand und verschwand so schnell wie er gekommen war. Die drei Sozialarbeiter sahen sich nur an und schüttelten mit ihren Köpfen. Sascha: „Der ist doch bekloppt. Was glaubt er denn, was hier los ist, wenn das bekannt wird. Spätestens in drei Wochen, wissen die Bewohner des Viertels, was hier abgeht. Das lässt sich doch nicht so einfach verheimlichen.“ Andrea: „180 Leute, dass ist doch Wahnsinn. Wie sollen wir das alles organisieren?“ Ole: „Bevor man Asylbewerber integrieren kann, müssen sie erst einmal deutsch können. Bei Kindern geht das lernen schneller, aber bei den Erwachsenen ist das nicht so einfach.“ Sascha: „Wir haben ja nicht einmal Kitaplätze für alle deutschen Kinder, wo sollen wir da Plätze für Flüchtlinge herzaubern. Die Herren da oben machen es sich einfach, sie beschließen und wir sollen liefern.“ Andrea: „Kopf hoch, Jungs. Wie sagt doch unsere Kanzlerin immer: „Wir schaffen das.“ Alle lachten, weil Andrea bei dem Satz auch noch die berühmte Raute mit den Händen machte. Sascha: „Ich kann jetzt schon sagen, wir schaffen das nicht. Sobald die Rechte Szene davon Wind bekommt, wird hier die Hölle los sein und wir werden dafür den Kopf hinhalten müssen. Da werden nicht nur Fäuste fliegen, sondern auch Steine.“ Andrea: „Wie wollen wir vorgehen? Hat jemand einen Plan?“ Ratlos sahen sie sich an und Ole wollte erst noch abwarten, bis sie alle Unterlagen aus dem Sozialreferates hatten. Erst dann konnte man konkret planen. Renate und Wolfgang merkten natürlich, dass sie in letzter Zeit mächtige Konkurrenz bekommen hatten. Es waren Flüchtlinge und Asylbewerber, die diese Einnahmequelle auch für sich entdeckt hatten. Wolfgang: „Meine Liebe, das sammeln rentiert sich doch nicht mehr. Wir haben einen Tag zu zweit gesammelt und haben gerade einmal 2,45 Euro verdient.“ Renate sah in ihren Geldbeutel und zählte alles zusammen. Dann meinte sie: „Du hast Recht. Wir haben gerade einmal soviel Geld zusammen, um bei der Tafel zwei Tüten mit Lebensmittel zu kaufen.“ Wolfgang: „Dann müssen wir aber schon um 6:00 Uhr dort sein, sonst haben die nichts mehr. Letzte Woche hatten sie nur noch gammliges Obst und Gemüse und darauf kann ich verzichten. Ich bin doch kein Mülleimer, der alles schluckt.“ Renate nickte nur zustimmend und meinte: „Wenn alle Stricke reißen, müssen wir eben nur noch betteln.“ Deshalb beschlossen sie, ab dem nächsten Tag nur noch drei Mal in der Woche, schnorren zu gehen. Frustriert hatten sie ihre letzten Flaschen abgegeben und machten sich auf den Heimweg. Da Renates Rad hinten einen Platten hatte, schoben sie ihre Räder bis in die Warschauer Strasse. Dabei kamen sie unweigerlich an der Baustelle von den Häusern 112-116 vorbei. Renate war es, die zu Wolfgang sagte: „Warte einmal, da entstehen neue Wohnungen, vielleicht ist da noch eine frei, die billiger ist wie unsere. Ich gehe einmal hinein und erkundige mich, wem die Wohnungen gehören und ob noch eine frei ist.“ Wolfgang: „Das ist doch zwecklos. Neu renovierte und sanierte Wohnungen in dem Viertel, sind immer teurer wie unsere alte Bude.“ Aber Renate ließ sich nicht beirren, drückte Wolfgang ihr Rad in die Hand und lief schnurstracks in eines der Häuser.