Langsam bogen beide in die Kirchgasse ein. Vom hohen Turm der Kirche schlug es elf Uhr. Bevor Karl etwas sagen konnte, erklärte Margot ernsthaft: „Karli, hör mich bitte an! Meine Gefühle zu dir sind weder lauwarmes Wasser noch eine kindliche Verliebtheit. Du bist auf dem Holzweg. Bei jeder unserer Begegnung hätte dir auffallen müssen, wie verliebt ich dich ansah und wie meine Sehnsucht nach dir aus jedem Blick sprach. Meine Gefühle, und das sage ich ohne Einschränkung, sind ehrlich und rein. Mir anderes anzudichten, wäre schamlos.”
Weich legte sie ihre Schläfe an Karls Schulter. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust. Ihre aufrichtigen Gedanken hatten Karl angerührt. Sie glichen einem sanften Kuss. Ihre Leidenschaft war von solcher Kraft, dass Karl plötzlich in einer Flut von Seligkeit zu versinken schien. Es knisterte in ihm, und er dachte, ,da geht neben mir ein bezauberndes Mädchen mit großen Vorzügen, und ich, ich jage einem Phantom nach, einem Wesen, das ich nie mehr gesehen habe. Bin ich ein Narr, der das herrliche Menschenskind neben sich in ihrer wohlgefälligen Art nicht begehren darf? Darf ich Margot noch länger abweisen, hartherzig und kaltblütig? – Andererseits wäre es schamlos, ihre reinen und edlen Gefühle für ein kurzes Abenteuer zu missbrauchen’.
So wurde er plötzlich von seinen Gefühlen, wie beim Tauziehen, hin und her gerissen. Karl wusste nicht, wie ihm geschah. Die Flamme der Begierde griff nach seinem Inneren. – Ist es nicht wunderbar, von einem Mädchen begehrt zu werden, dem viele andere nachliefen? – Tief in Gedanken versunken, bemerkte Karl nicht, dass sie sich plötzlich vor dem Eingang der Kleingartenanlage des Dorfes befanden. Von den Bäumen drang hinreißender Gesang der Nachtigallen. Karl fühlte sich plötzlich von Margots Begehren und ihrer Liebe geschmeichelt. Unter vielen hatte sie ihn auserwählt. Das lockte! Die Versuchung überwältigte ihn. Ein neues, unbekanntes Gefühl stieg in ihm auf. Die Eitelkeit tat das ihrige. Ungehemmt umarmte er Margot. Ihr Sehnen war plötzlich auch das seine geworden. Hingerissen lauschten sie eng umschlungen dem betörenden Gesang gefiederten Sänger. Rein und hell schmetterten die kleinen Sommergäste aus kräftiger Kehle, lockend, sanft und fröhlich, klagend und schmelzend, ihre Lieder in die lauschige Nacht.
Beide hatte ein verzehrender Rausch erfasst. Margots Sehnsucht war wie ein zärtlicher Ruf gewesen. Sie lag wie eine Fee in seinen Armen. Ihr schönes Haar zitterte im sanften Frühlingswind. Langsam, eng umschlungen, bogen sie in den Mittelweg der Anlage ein. Der Wind trug Stimmengewirr heran. In der Ferne lachte lauthals eine Frau. Hinter den Gärten zeichnete sich der mächtige Schatten des nahen Berges ab. Und über allem funkelnde Sterne. Karls Augen versuchten das Gewirr von Ästen und Sträuchern zu durchdringen. Ein betörender Duft von Blumen, Blüten und Gräsern hing in der Luft.
Margot ging den schmalen Gartenweg zur Laube ihrer Eltern voraus. Ein Griff hinter einen Balken – und der Schlüssel lag in ihrer Hand. Muffige Wärme schlug ihnen entgegen. Mit wild klopfendem Herzen war Karl Margot gefolgt. Er stieß gegen einen Stuhl. Margot öffnete einen Spalt breit das Fenster und den Fensterladen. Sie zog ihn zum Sofa. Er kniete vor ihr nieder, legte seinen Kopf in ihren Schoß. Zärtlich kraulten ihre Fingerkuppen seine Kopfhaut. Die sanften Berührungen erregten des Jünglings Sinne. Ein Schauer von Wollust durchströmte Karls Geist und Körper. Jäh loderte in ihm eine unbekanntes Feuer auf. Ein nie erahntes Verlangen nach mehr Liebkosungen folgte. Margot hatte in ihm das Begehren nach einem weiblichen Leib geweckt. Mit sanftem Druck hob Margot Karls Kopf an und zog ihn vorsichtig zum Sofa. Willig legte er sich neben ihr nieder. Die alten Federn ächzten. Karls Herz hämmerte zum zerspringen. Sein Gesicht glühte. Über den nahen Berg stieg langsam der Mond empor. Durch den Spalt im Fensterladen drang ein winziger Strahl goldenen Lichts.
Die Liebesglut überkam beide wie eine himmlische Gabe. Beide umschlangen sich heiß. Prickelnd wallte das Blut. Eine Liebesglut sprang von Seele zu Seele. Ihre Lippen fanden sich zum heißen Kuss. Karl zitterte. Zum Fliehen war es zu spät. Das Unbekannte im Weib lockte mit tausend Zungen. Wie sich wehren gegen das Abenteuer? Ihre süße Weiblichkeit hatte sein Herz entflammt. So hatte das heilige Verlangen ihn besiegt. Langsam begannen sich beide zu entkleiden. Noch scheu, aber voller Begierde ertastete Karl ihre straffen Brüste, ihren purpurnen Leib. Bei jeder Bewegung spürte er ihre Nacktheit, ihre samtweiche Haut, ihre wohlgeformten Glieder. Bereitwillig schob sich Margot ihm schmeichelnd entgegen. Wie eine Droge zauberte die Berührung ihrer Haut ein jubelndes Gefühl von Glück herbei. Das Verlangen nach körperlicher Vereinigung mit dem anderen Geschlecht, wuchs ins Unermessliche. Getragen vom Urtrieb der Sexualität, umarmten sie sich zitternd und bebend. Ihr weiblicher Schoß öffnete sich, und ihre erhitzten Leiber genossen die Süße des hingebungsvollen ineinander Aufgehen …
Tag der Einberufung
Karl erwachte nach einem kurzen, aber tiefen Schlaf. Er blickte an die nackte, kalkweiße Schlafzimmerdecke. Aus der Küche drang Geschirr klappern. Er streckte knackend die Glieder und gähnte. Es war kurz vor halb fünf.
Jäh kam die Erinnerung an die vergangene Liebesnacht, erregte ihn noch einmal der Zauber des Schäferstündchens, die heiße Umarmung mit Margot. Die Schwarze Rose, das wunderbare Mädchen mit den Brombeeraugen, hatte ihn mit warmer Zärtlichkeit umschmeichelt und damit erreicht, dass er ihr nicht widerstehen konnte. Ihr Werben und ihr anmutiges Drängen zur Laube und ihr liebestolles Plaudern hatten seinen Geist für Minuten eingehüllt, in dessen Folge er ihr bedenkenlos gefolgt war. Gleichzeitig war er von der Begierde beseelt gewesen, das geheimnisumwitterte Liebesspiel auszuprobieren und vom Baum der Erkenntnis zu naschen.
„Warum”, sagte er vor sich hin, „sollte ich mir dies nicht eingestehen. Es war faszinierend, die samtweiche Haut eines so jungen Weibes zu fühlen, ihren Leib in Begierde zu spüren und den Akt in höchster Lust und mit jeder Faser des Körpers zu genießen. Sollte ich diese Nacht mit der plötzlichen, unkontrollierten Eingebung bereuen; habe ich wider menschlicher Vernunft gehandelt, die uns Menschen zur Kontrolle über unser Handeln gegeben ist? Oder habe ich mich sogar mit Schimpf beladen, weil ich mit einer Jungfer geschlafen habe, die ich nicht liebe, aber gewiss sehr gern habe?”
Scham ergriff ihn plötzlich. Irgendwo rumorte es in ihm: ,Du hast schamlos an Margot gehandelt; du hast ihr etwas vorgegaukelt, was es deinerseits nicht gibt: die Liebe’. Beklommen dachte er an eine zukünftige Begegnung und auch an Briefe. In diesem Augenblick fiel Karl ein Spruch ein, den er einmal von Frauen der Konservenfabrik gehört hatte: „Unter dem Gürtel ist kein Verstand!”
Karls Mutter hatte auf Zehenspitzen das Schlafzimmer betreten. Geräuschlos zog sie den Fenstervorhang zurück. Bernsteinfarbenes Licht fiel herein. Karl richtete sich auf und rief leise: „Guten Morgen!” Seine Mutter setzte sich für einen Augenblick auf die Bettkante, strich über sein Haar und sagte im vertrauten Ton, aber mit gedämpfter Trauer in der Stimme: „Guten Morgen, mein Junge! Du bist heute Nacht spät nach Hause gekommen. Hast du denn schon ausgeschlafen?”
„Du hast recht, es war sogar sehr spät, aber meine innere Uhr hat die Zeit zum Aufstehen exakt gemessen, so dass ich pünktlich erwacht bin.”
„Und wer hat dich aufgehalten?”
„Margot Irrgang.”
Ein mildes Lächeln huschte über ihr Antlitz. Sie gab Karl einen sanften Stoß in die Rippen und meinte: „So so, mit der Margot warst du noch zusammen. Hoffentlich kommen mir keine Klagen ins Haus, du Milchbart, du!”
„Klagen – warum?” Da begriff er, was sie meinte.
„Um Gottes willen, male den Teufel nicht an die Wand!” Um seine Verlegenheit zu überspielen, glitt er schnell aus dem Bett und hatte sich bald gewaschen.
Am Frühstückstisch verspürte Karl zum ersten Mal keinen Hunger. Während er sich die einzelnen Bissen in den Mund schieben musste, stand die Mutter am Fenster. Ihr Gesicht verriet ihren Schmerz. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Daraus sprachen die Angst und die Bitternis des Abschieds.
Karl hatte Mitleid mit ihr. Die Frauen hatten ein bitteres Los gezogen. Sie wurden auf eine verdammt harte Probe gestellt. Die Männer zogen in den Krieg, vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Die Frauen aber sollten in Demut alle Lasten des harten Lebens und der Familie tragen. Wer tröstete