Kurz bevor Karl die Schenke verlassen wollte, betrat ein SS-Mann das Lokal. Er richtete sich zu voller Größe auf, schlug die Absätze zusammen, riss den rechten Arm empor und rief laut: „Heil Hitler!”
Alle Gäste wandten sich ruckartig nach ihm um.
„Ich werd verrückt”, rief Paul, „das ist doch Baldi, der Cherusker!”
Er sprang auf, begrüßte den Neuankömmling mit herzlichen Worten; schüttelte ihm kräftig die Hände.
Aller Augen hingen an dem Schwarzuniformierten. Baldi, der nach dem Abitur zur SS gegangen und einundzwanzig Jahre alt war, wirkte hochgewachsen und gertenschlank in der eng anliegenden Uniform, schlanker noch, als er schon war. Er hatte einen schmalen Schädel, blondes Haar, blaue Augen und ein kühn wirkendes Gesicht. Er verkörperte in natura die germanische Rasse – wie sie stets in Bildern und Dokumenten vorgeführt wurde.
Baldi ging freundlich grüßend durch den Schankraum. Auf jeden Tisch klopfte er zum Gruß mit dem Fingerknöchel hart auf die Tischplatten.
Mit Bekannten wechselte er ein paar freundliche Worte oder rief ihnen nichtssagenden Floskeln zu.
Zielstrebig trat er an den Tisch von Karl und seinen Freunden.
„Darf ich mich zu euch setzten?” Sie nickten. Karl zog von nebenan einen freien Stuhl zum Tisch. Baldi setzte sich. Schon zog er ein Zigarettenetui aus einer Uniformtasche und reichte es herum. „Bedient euch!” Karl lehnte ab. Ein Streichholz flammte auf. Den Rauch genießend einsaugend, meinte Heinz: „Gute Sorte”. Danach blies er den Rauch mit spitzem Mund aufwärts .
„Stammt aus Frankreich”, erklärte Baldi prahlend, „dort gibt es neben guten Zigaretten auch anderes fürs Gemüt: Cognak, herrlich duftendes Parfüm, elegante Kleider, Schmuck. Alles, was den Landser so interessiert, und was in der Heimat begehrenswert ist.” Er lehnte sich zurück, um den Rauch seiner Zigarette mit einem zum O geformten Mund in Kringeln zur Decke zu blasen. Sich vorbeugend flüsterte er mit lächelnden Lippen: „Wie ich hörte, feiert ihr den Abschied von Karl. Stimmt, nicht wahr?”
„Stimmt”, erwiderte Karl und fragte zurück. „Und wer hat dich so gut informiert?”
Baldi zwinkerte mit dem linken Augenlid. „Na, wer wohl? – Richtig, meine Schwester, die Inge. Schon gestern Abend, kaum war ich angekommen, unterrichtete sie mich über das Neueste aus dem Dorf. Und als sie von dir sprach, Karl, bekam sie regelrecht heiße Ohren. Ich glaube, sie ist wie ein Hündchen in dich verschossen.”
Karl errötete bis unter die Haarwurzeln. Seine Freunde wieherten schadenfroh. Wahrscheinlich, weil sie wussten, dass Karl die Inge mit dem pausbäckigen Gesicht, der Stupsnase, dem strohblonden Haar, nicht ausstehen konnte. Glücklicherweise war der Wirt an den Tisch getreten. Er räumte die leeren Biergläser ab. Die Jungs mochten ihn. Er war gutmütig, verstand Spaß, und man rühmte seinen Verstand und seine Umgänglichkeit, mit jedem Gast auszukommen.
Vertraulich fragte er Baldi: „Was darf ich servieren?”
Baldi zupfte ihn am Ärmel, damit er sich zu ihm herab beuge. „Eine von meinen Flaschen”, flüsterte Baldi.
Grinsend schlurfte der Wirt davon. Gleich darauf kehrte er mit einer Flasche Cognak und fünf Gläsern zurück.
Baldi tippte Karl auf die Schulter und bemerkte: „Mein lieber Karl, das ist ein edler Tropfen aus einer französischen Brennerei. Bald wirst auch du solchen oder ähnlichen Cognak zu schätzen wissen, vor allem, wenn du nach Frankreich versetzt wirst. Dort kannst du dich frei bedienen.”
Baldis Augen wanderten dabei zum Nachbartisch, wo zwei junge Frauen saßen. Die eine mochte vierundzwanzig und die andere sechsundzwanzig Jahre alt sein. Es waren Fremde. Er winkte sie heran. Ihre Augen strahlten. „Et jibbt eben noch Kavaliere”, erklärte die Ältere, als sie an den Tisch rückte. Baldi rief: „Noch zwei Gläser, Herr Fink.” Schnell standen zwei weitere Gläser auf dem Tisch. Baldi schenkte ein. Er erhob sein Glas und prostete: „Meine Damen, Jungs, auf die Frauen und das Kriegsglück!”
Karl schüttelte sich beim ersten Schluck. Wie die Freunde, kippten sich auch die Frauen den Cognak mit einem Hieb hinter die Binde.
„Sie sind eben nichts Gutes gewöhnt, junger Mann”, sagte die ältere der Frauen zu Karl, der ein zweites Glas abgelehnt hatte. In der nächsten Stunde erfuhren die Burschen, dass beide Schwestern aus Berlin waren. Ihr Haus in Berlin wurde für neue Bauten in der Reichshauptstadt eingeebnet. Seit zwei Tagen wohnten sie bei Verwandten im Ort.
Die Gläser wurden erneut gefüllt und auf das Wohl der leidgeprüften Frauen und Kinder geleert.
Karl hielt sich beim Trinken raus. Schon stand die zweite Flasche auf dem Tisch. Baldi, vom Alkohol in Fahrt geraten, begann von seinen tollen Erlebnissen in Frankreich zu berichten. Dabei blieben seine Augen an der älteren der beiden Frauen hängen. Sie war die hübschere. Nach Baldis Darstellung lagen die Französinnen den Deutschen zu Füßen. Seine Augen sprühten förmlich, als er von nächtlichen Gelagen bei Champagner, erstklassigen Weinen und den Gaumen reizendem Cognak berichtete, wie auch von Bordellbesuchen.
Hingerissen hingen die jungen Frauen an seinen Lippen, als er schilderte, welch wohlriechende Düfte den französischen Parfüms eigen sei und welch herrliche Garderobe in feinen Geschäften liege.
Genießerisch sprach er auch vom Traum seines Lebens: in Paris zu wohnen. Es sei ein einziger Frühling für jeden jungen Deutschen, dort die Freiheit im Krieg zu erleben. Und noch nie hätte das deutsche Volk vor solchem Reichtum und Wohlstand gestanden, wie gerade jetzt.
„Nur noch ein einziger Sieg muss an Deutschlands Fahnen geheftet werden: der Sieg über das perfide England. Dann ist der ,Griff zur Weltmacht’, wie Göring 1940 meinte, in unserer Hand.”
Trunken vom Alkohol und Baldis Schwadronieren über die Zukunft glühten die Wangen der Frauen und die der Freunde. Fast nüchtern verließ Karl die Runde. Alle wünschten ihm Glück und eine gute Wiederkehr. Während Karl den Freunden zum Abschied die Hände schüttelte, erzählte Baldi erregt den Frauen eine Zote, worüber sie ausgelassen lachten. Beim Verlassen der Gaststube hatte sich Karl noch einmal umgedreht. Er sah, wie die ältere der Schwestern auf seinen Stuhl gerutscht war. Sie strich Baldi schmeichlerisch über die Schläfe.
Die Schwarze Rose
Den Abend hatte sich Karl für einen Kinobesuch freigehalten. Der Flammenglast des Tages war hinter den Bergen verglüht. In der einsetzenden Abenddämmerung ging er gelassen zum Kino des Dorfes. Unter den Bäumen lagen die ersten blaugrünen Schatten der heraufziehenden Nacht.
Karls Augen genossen noch einmal das heitere und verschwiegene Grün zwischen den Häusern und an den Hängen der Berge. Diese Schönheit der Landschaft erzeugte in ihm eine Andacht, wie sie ihm am Vormittag in der Kirche durch die Brust gezogen war.
Einige Kinder spielten noch auf der Schulstraße. Eine junge Mutter, die sich weit aus dem Fenster lehnte, rief ihren Kindern etwas zu. Vor einigen Häusern saßen ältere Leute und plauderten angeregt miteinander. Junge Paare nutzten den milden Abend, eng aneinander geschmiegt, spazieren zu gehen. Im Bach, der sich mitten durchs Dorf schlängelt, plätscherte ein dünnes Rinnsal schmutzigen Wassers. Am Bachrand hingen Blattmassen von Büschen bis zum Grund.
Karl sah den Film „Der Kurier des Zaren”, nach dem Roman von Jules Verne. Dieser Streifen zeigt das pralle Leben des Hauptmanns Strogoff, eines russischen Offiziers, der im Geheimauftrag des Zaren nach dem Fernen Osten unterwegs ist. Die Verstrickungen und erschütternden Szenen um den geheimnisumwitterten Offizier, der unbeirrt in fast ausweglosen Situationen – so sollte er in der Gefangenschaft bei den Tataren mit einem glühenden Schwert geblendet werden – mit Hilfe einer schönen Frau, der Gräfin Nadja, zielsicher und trotz widriger Umstände den befohlenen Ort erreicht. Der Film war hervorragend gestaltet und mit guten Schauspielern besetzt.
Noch in seelischer Spannung vom selbstlosen Kurier und seiner bezaubernden Begleiterin gehalten, verließ Karl inmitten erregt diskutierender Kinobesucher den Saal. Auf der Straße – der Himmel