Des Orakels Richterspruch. Clemens Anwander. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Clemens Anwander
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738039269
Скачать книгу
Clemens Anwander

      Vorahnung

      Das mächtige steinerne Tor erbebte unter den vehementen Stößen, welche von der anderen Seite emittierten. Kleine Gesteinsbrocken rieselten auf ihr Gesicht, sie spürte die Erschütterungen bis in die Knochen. Lange würde die Pforte nicht mehr standhalten. Gequälte Todesschreie drangen gedämpft an ihr Ohr. Das Torhaus hatte dicke Mauern, doch diese Art von Lärm ging selbst durch den massiven Stein. Ein weiterer Stoß, das Tor schwang einen kleinen Spalt auf! Sofort warf sie sich mit den anderen Soldaten dagegen. Das massive Portal musste einfach standhalten! Es war das größte Hindernis für den Gegner. Erneut krachte die mächtige Ramme des Feindes gegen den Eingang der Festung. Sie wurde einen Schritt zurückgestoßen. Sofort stemmte sie ihre Beine in den Boden, ihre Schulter klebte am kalten Stein. Ihre Muskeln spannten sich mit aller Kraft. Das Keuchen ihrer Kollegen verdeutlichte, dass sie alles gaben, was sie konnten. Oder waren es inzwischen nur noch ehemalige Kollegen? Sie schüttelte ihr Haupt, um den Gedanken zu vertreiben. Jetzt war wohl kaum die Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ein neuer Stoß krachte gegen das Portal. Dieses Mal wurde sie zwei Schritte zurück geworfen, das Tor stand weiter auf als vorhin. Es würde nicht halten! Ihre Stellung war verloren.

      »Zurück! Zieht euch hinter die Gitter zurück.«

      Sie hatte ihre Stimme so laut ertönen lassen, wie es ihr nur irgendwie möglich war, und trotzdem ging sie beinahe in dem Kampfwirbel unter. Die wenigsten hatten den Befehl vernommen. Erneut schrie sie aus Leibeskräften. Jetzt endlich kam ein Ruck in die versammelte Masse der Elitisten und Schildmaiden. Die hintersten von ihnen waren bereits bis zu der Stelle zurückgewichen, wo das zweite Gitter fallen würde. Ein neuer Stoß krachte unter lautem Getöse gegen das Portal. Nachdem dieses Mal niemand mehr bereit stand, um dagegen zu halten, öffnete sich die steinerne Pforte weit. Der breite Balken aus Hartholz, der sie eigentlich geschlossen halten sollte, war längst geborsten und lag in zwei ungerade gebrochenen Stücken am Boden. Sie hastete eilig zurück. Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Die ersten Feinde stürmten in das Torhaus. Einige ihrer Kollegen zogen ihre Schwerter um den Kampf zu suchen.

      »Weicht zurück! Zurück!«

      Ihre Stimme vermischte sich mit dem Gewirr aus Schreien und dem metallischen Klirren, das unzählige aufeinander prallende Eisenwaffen verursachten. Endlich war sie weit genug zurück, über ihr hing bedrohlich das mächtige Eisengitter. Einige Feinde stürmten auf sie zu, sie mussten es irgendwie geschafft haben, sich an ihren Soldaten vorbei zu drücken. Wenn sie in ihren Rücken gelangten, dann wäre der Kampf augenblicklich verloren.

      »Erstes Gitter zu!«

      Ein junger Elitist an ihrer Flanke sah sie entrüstet an.

      »Wir können sie doch nicht im Stich lassen!«

      Sie würde jetzt bestimmt nicht diskutieren.

      »Schließt das Gitter!«

      Einer der Feinde war inzwischen an sie herangekommen und holte mit seiner Streitaxt aus. Sie duckte sich, die Waffe schrammte knirschend über den Stein. Wie eine Peitsche ließ sie ihr rechtes Bein vorwärts schnalzen, hakte es hinter die linke Ferse des Angreifers und zog es ruckartig zurück. Der Mann knallte mit voller Wucht auf den Rücken, gleichzeitig fiel mit einem quietschenden Rattern endlich das Gitter. Die spitzen Enden bohrten sich quer in den Oberkörper des Mannes. Kurz spuckte dieser etwas Blut, doch sein Sterben dauerte keine Sekunde. Er gehöre damit sicherlich nicht zu der Mehrheit an diesem Tag. Auf der anderen Seite des Gitters kämpfte verbissen eine letzte Schildmaid, unzählige tote Körper lagen zu ihren Füßen. Sie verteidigte sich äußerst geschickt mit zwei Schwertern und kämpfte dabei wie eine Furie. Eben stach sie einen muskelbepackten Kerl nieder als sie plötzlich ein Schlag in den Rücken traf. Mit einem Feind im Genick hatte man selbst als bester Kämpfer der Welt keine Chance. Sie hatte richtig entschieden, als sie das Gitter schließen hatte lassen. Dies schien auch der Elitist, welcher sie vorhin noch vorwurfsvoll angeblickt hatte, begriffen zu haben, da er nun durchaus erleichtert aussah.

      »Pikeniere und Armbrustschützen! Aufstellung nehmen.«

      Mochte das steinerne Tor auch überwunden sein, noch war es nicht so weit. Sie mussten mehr Zeit erkaufen. Die Elitisten und Schildmaiden mit den Fernkampfwaffen positionierten sich geschickt, vor ihnen knieten die Männer und Frauen mit den langen Pieken. Mit ihnen würden sie die Feinde aufs Korn nehmen, die so dumm waren, sich nahe genug heranzuwagen, während die Fernkämpfer den anderen zusetzten.

      »Feuer.«

      Ein Hagel aus Armbrustbolzen schoss durch das Gitter und fegte etliche der Angreifer von den Füßen. Doch für jeden, der gefallen war, drangen zwei weitere durch die breite Öffnung. Doch damit nicht genug. Etwas blinzelte vor ihr auf. Ein riesiger Baumstamm, an der Spitze mit etlichen fingerbreit Eisen überzogen, wurde in die Öffnung geschleppt. Diese verdammte Ramme schon wieder…

      ------------------ Ein paar Wochen zuvor ------------------

      Rosige Aussichten

      Degaar schlenderte durch den Garten, durch den er schon so viele Male seine Schritte gelenkt hatte, doch nach wie vor verwunderte ihn diese Pracht. Er konnte sich nicht satt sehen an den Blumen, Sträuchern und Bäumen, für die er ein Vermögen bezahlt hatte. Er schritt vorbei an den prachtvollen, dottergelben Sonnenblumen, die es sich einfach nicht nehmen ließen, das gesamte Jahr über zu blühen, ließ den jetzt blutroten Ahorn, der im Winter durchsichtig wurde, als ob er aus demselben funkelnden Eis bestünde, das ihn hoch oben in den Yamg Bergen umgab, links liegen und schritt quer durch die Luftspiegelung einer fleischfressenden Pflanze, welche diese von sich selbst produzierte, um mehr Insekten anzulocken. Aus den fernsten Winkeln hatte er diese Wunder besorgen lassen und so manche waren selbst in ihren Herkunftsorten eine solche Rarität, dass man für sie eine Summe bezahlen musste, die eine kleine Familie durch den Winter brachte. Ein letzter Schritt noch durch das fein säuberlich getrimmte Gras und Degaar war angekommen, wo er hingewollt hatte: Er betrachtete die Qaxin-Rosen, die in ihrem gewohnt bestechend schönen Violett erstrahlten. Er schmunzelte. Diese Rosen waren etwas ganz Besonderes, selbst für einen erlesenen Garten wie den diesen. Gerade jetzt, als die letzten Sonnenstrahlen in den Garten fielen, geschah das Schauspiel, das diese Pflanze so einzigartig machte. Im roten Licht der untergehenden Sonne verwandelte sich die Farbe der Blüten Schritt für Schritt von Violett auf Dunkelrot. So viele Male hatte der König diesem Schauspiel nun schon beigewohnt, doch noch immer zog es ihn in seinen Bann. Darum fand er wahrscheinlich auch Tag für Tag einen mehr oder weniger guten Grund, der sein Gewissen beruhigte, um sich kurz vor Sonnenuntergang von seinen Staatsgeschäften zurückzuziehen und in den Garten zu gehen. Dort verbrachte er dann jene halbe Stunde, welche die Qaxin-Rosen benötigten, um ihre Farbe zu wechseln. Seltsamerweise faszinierte ihn die Rückverwandlung der Pflanze nicht im Geringsten. Er hatte natürlich auch diesem bereits beigewohnt, empfand ihn aber bei weitem nicht so prickelnd wie den Wandel in den Abendstunden. Dies mochte vielleicht auch einfach nur den Grund haben, dass Degaar kein Morgenmensch war, und er sich schlicht und ergreifend nicht schon vor Morgengrauen aus seinem Nachtlager quälen wollte. Vor allem dann nicht, wenn er an Naileen dachte, wie sie verführerisch an seiner Seite den Schlaf der Gerechten schlief. Wie ihr, auf der Seite liegend, das schwarze, seidige Haar sanft über die Schultern hing, sie ihre langen, glatten Beine leicht überkreuzt hatte, und wie sie selbst im Schlaf seine Nähe suchte… Degaar schüttelte sich, um die sich in ihm aufbauende Erregung wieder loszuwerden. Er sollte sich nicht so gehen lassen! Er seufzte leise. Naileen hatte schon immer eine solche Wirkung auf ihn gehabt. Wenn er an sie dachte, war es vorbei mit seinen sonst so geordneten Gedanken. Allerdings wusste er dies glücklicherweise auch selbst und hielt sich in seinen Arbeitsstunden gewöhnlich sowohl geistig als auch körperlich nicht bei ihr auf. Dazu war ja schließlich in den Nächten genügend Zeit. Er realisierte, dass er schon seit einer Weile ins Nichts starrte. Der magische Wandel der Blumen war vollendet, zumindest für diesen Abend. Ursprünglich war diese Pflanze nichts Besonderes für ihn gewesen. Er hatte von einem Händler, der regelmäßig den Palast aufsuchte, von ihr gehört und war neugierig