Ein ganzes Leben in einer Hutschachtel. Ulla Rogalski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulla Rogalski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844272680
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war.

      Schlicht und natürlich

      Obwohl sicherlich sorgfältig arrangiert, sieht die Aufnahme für ihre Zeit und die gesellschaftlichen Verhältnisse der Familie höchst unkonventionell aus. Bertha sitzt in einem schlichten, weißen, kittelartigen Kleid auf einer Fensterbank. Die nackten Füße schauen darunter hervor, ihre langen Haare trägt sie offen. Dahinter ist ein Sprossenfenster halb geöffnet, davor ein kleiner Blumentopf. Wegen dieser zeituntypischen Einfachheit und Natürlichkeit kann man sicher sein, dass Berthas Mutter hier Regie geführt hat. Das taten damals sicher alle Mütter bei Kindern dieses Alters — nur sah das in der Regel völlig anders aus. Da müssen die lieben Kinder herausgeputzt und unnatürlich als kleine Erwachsene vor theatralischen Kulissen posieren. Aber Berthas Mutter ist fortschrittlich und anders, sie arbeitet seit zehn Jahren mit Else Wirminghaus zusammen an führender Stelle in der Reformkleider-Bewegung. Clara Sander ist die Schriftführerin des Verbandes und gibt die Zeitschrift „Neue Frauenkleidung und Frauenkultur“ heraus. Da sieht ein „gutes“ Kinderkleid und ein „schönes“ Kinderfoto eben ganz anders aus: schlicht und natürlich, mit Geschmack und Qualität — und ohne unechten Prunk.

      Mutter lenkt

      Bertha Sander schreibt später über diese Zeit: „Meine Mutter erkannte sehr früh meine Fähigkeiten und meine Mängel und hielt mich nicht zwangsweise in der Schule. Sie schickte mich während meiner drei letzten Schuljahre zu einem vorzüglichen Lehrer, der damals in meiner Vaterstadt eine Jugendklasse im Sinne des großen Wiener Pädagogen Franz Cizek leitete. So lernte ich von früh an eigenes Denken, eigenes Schaffen und das Unterscheiden von Gut und Schlecht.“ Der Kurs, den sie besucht, ist ein „künstlerischer Zeichenkurs für Schüler“ an der Kunstgewerbe- und Handwerkerschule der Stadt Köln. Ihr Lehrer dort, wenn auch nicht über die ganzen Jahre, ist ein österreichischer Architekt namens Philipp Häusler, zu dem sie lebenslang Kontakt halten wird. Er ist von 1913 bis 1921 mit Kriegsdienst-Unterbrechungen Lehrer an der Kölner Schule. Aus dieser Zeit existieren heute keine Lehrpläne mehr. So kann nur vermutet werden, dass er die reformpädagogischen Einflüsse seines Landsmannes Franz Cizek in den Unterricht einbrachte, die Bertha im obigen Text erwähnt. Im Nachhinein scheinen dort die Weichen für Berthas Berufswahl gestellt worden zu sein, ihre Berufsausbildung beginnt.

      Leistungsschau moderner Gestaltung

      Köln hat 1914 auf dem Terrain der modernen Gestaltung Geschichte geschrieben. Der Deutsche Werkbund, der 1907 als Vereinigung von Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachverständigen gegründet wurde, richtet hier seine erste Leistungsschau aus. Ziel ist es, Bauwerke und Gebrauchsgüter mit Qualität zu gestalten und auch Reformen von Arbeits- und Lebensbedingungen in Gang zu bringen. Bei der Ausstellung spielt der junge Konrad Adenauer, damals Erster Beigeordneter der Stadt, eine wichtige Rolle. Er, selbst Werkbund-Mitglied, setzt sich dafür ein, dass am Deutzer Ufer gegenüber der Kölner Altstadt, ein 350.000 m² großes Gelände, heute Kölnmesse und Rheinpark, zur Verfügung gestellt wird, dazu noch die Riesensumme von fünf Millionen Goldmark. Am 15. Mai 1914 eröffnet Henry van de Velde, der große Gestalter und Leiter der Kunstgewerbeschule Weimar, das Ausstellungsgelände mit über 50 exemplarischen Gebäuden. Die Schau soll einer breiten Öffentlichkeit einen Einblick in die zeitgenössische, moderne Formgebung geben. Das interessiert natürlich die aufgeschlossene und reformerisch orientierte Clara Sander. Vor kurzem ist ein Brief aus Berthas späten Jahren aufgetaucht, darin schreibt sie, dass sie sich noch gut an den Besuch dieser Ausstellung erinnere und auch das entsprechende Jahrbuch des Deutschen Werkbundes noch in ihrem Besitz sei. Also hat Clara ihre 13-jährige Tochter zur Ausstellung mitgenommen. Haben die beiden dort den Österreicher Philipp Häusler erst kennengelernt? Der Architekt unterrichtet bereits ein Jahr an der Kölner Kunstgewerbeschule und hat parallel den Bau des Österreichischen Hauses auf der heute legendären Ausstellung geleitet. Auf jeden Fall geht Bertha ab Herbst in seine Schülerkurse. Die Werkbund-Ausstellung muss im August 1914 vorzeitig geschlossen werden — der Krieg beginnt.

      Mutters „Antiwespentaillenbewegung“

      Clara Sander beschreibt später in ihren Erinnerungen die damalige Zeit, die Mode und ihre eigenen Beweggründe, sich damit zu beschäftigen. „Man kann sich heute kaum die Narrheit vorstellen, die sich in der Frauenkleidung zeigte, wie sie um die Jahrhundertwende war. [...] Ich erinnere mich an eine junge Dame in Lüttich, die sich ihrer 48 cm Taillenweite rühmen konnte. [...] 50 cm war die übliche Weite für eine elegante junge Frau. [...] Die Gestalt der Frau gleicht damals einer Sanduhr. Was in der Körpermitte zusammengepresst wurde, quoll unterhalb und oberhalb natürlich hervor. Hüften und Busen mussten voll und rund sein. Wo etwas fehlte, wurde durch eine Polsterung nachgeholfen. [...] Schon lange waren Stimmen laut geworden, die für eine Reform der Frauenkleidung eintraten. [...] Mich jetzt der Reform der Frauenkleidung zu widmen, hatte etwas Verlockendes. Das war eine nutzbringende Beschäftigung und eine Arbeit, die ausserordentliche Initiative erforderte, denn ich stand allein und musste etwas aufbauen, da, wo noch gar kein Grund und Boden war. Der Gedanke an den Vater gab mir Mut. Das Schaffen aus dem nichts war ganz in seinem Sinne. Mein Mann ließ mich gewähren.“

      Die Frankfurter Zeitung berichtet am 23. Juni 1915 über Clara Sanders Aktivitäten unter der Überschrift:

      „Deutsche Frauenkleidung und Frauenkultur

      Zwecks Gründung eines Vereins in Frankfurt berief der Vorstand des Verbands für deutsche Frauenkleidung seine Frankfurter Anhängerinnen am Montag zu einer Besprechung ins Hotel ‚Continental‘. Frau Klara S a n d e r (Köln), Schriftleiterin des Verbandsorgans, erläuterte die Zwecke des Verbandes, der seit zehn Jahren besteht und in dreiunddreißig Städten Vereine mit mehr als 5000 Mitgliedern hat. Die Rednerin bemerkte, daß kein Widerspruch mit dem am Sonntag ins Leben getretenen ‚Modebund‘ bestehe, daß dessen Gründung vielmehr zu begrüßen sei. Der Modebund sei eine Vereinigung von Produzenten, dem neu zu gründenden Verein sollen Konsumenten angehören. Beide suchen die Mode zum Besten der Frau zu beeinflussen. Doch ist es nicht Aufgabe des Verbands ‚Deutscher Frauenkleidung und Frauenkultur‘, Moden zu schaffen, er soll nur geschmacksbildend auf die Frau einwirken, indem er den unechten Luxus bekämpft und den Sinn für Materialechtheit auch in dem einfachen Kleid weckt. Ferner tritt er für Körperkultur und gesundheitlich einwandfreie Kleidung ein, gleichzeitig auch für Vereinfachung der Geselligkeit. Wie in anderen Städten, werden in Frankfurt vom Verein Kurse für Heimarbeiterinnen eingeführt, eine Auskunfts- und Beratungsstelle geschaffen und Ausstellungen veranstaltet. Jedem Mitglied steht der freie Bezug der Zeitschrift ‚Neue Frauenkleidung und Frauenkultur‘ zu. Als Vorsitzende des neuen Vereins wurde Frau Trenkwald [?] gewählt.“

      P.S. Ein konventionelles Bild

      In Berthas Nachlass schlummern zwei weitere Fotos mit dem gleichen Motiv: Ein Kinderporträt hängt mittig über einer antiken Schubladenkommode, darauf symmetrisch zwei Kerzenhalter und asymmetrisch ein paar Blumen. Eine der beiden Aufnahmen trägt den Stempel des berühmten Namensvetters, des Kölner Fotografen August Sander. Hier ist als Gegenstück ein konventionelleres Bild von Bertha im Stil der Zeit zu sehen: Bertha als verträumtes Kind mit Schleife im Haar, gemalt von einem Meister der Düsseldorfer Schule, die in der Zeit von 1819 bis 1918 als führend und stilbildend galt. Auch dieses Bild muss mit ausgewandert sein, es soll nach Berthas Tod als Erbe an Dr. John Speer und Yvonne Speer in Birmingham gegangen sein.

      5

      Der schöne Mai 1919

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      Gartenfest bei Sanders und ein Briefumschlag des „alten Lehrers“

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