Gastfreundlich und elegant
Der wünsch ich dass unter ihrem Dach
Nie mehr es gebe Weh und Ach
Spa, 24. August 1902“
Auch die Kinder tragen sich ins Gästebuch ein. War es freiwillig oder eine lästige Pflichtübung? Auf den Fotos scheinen sie sich in ihrer Sommerfrische sehr wohl zu fühlen, sie toben verkleidet auf Großmutters Terrasse herum, spielen mit Familienhund und Leiterwagen. Am Ende der Ferien 1912 lässt sich Bruder Otto auf einen Reim ein, Gabriele, die Älteste, bleibt kühl und knapp und Bertha fasst sich kurz.
„Spa, den 10. September 12.
Ich danke der lieben Großmama
Für den schönen Aufenthalt in Spa.
Bertha.“
„Zum Dichten hätte ich zwar Zeit,
Doch bin ich nicht genug gescheit.
Doch eins kann ich allein schon sagen,
Was ich nicht erst brauch‘ zu erfragen:
Das Wetter war zwar garnicht gut,
Doch Großmama mit frohem Mut
Ging jeden Tag ins Badehaus
Kam immer fröhlich wieder ‚raus.
Otto.
Spa, 11. September 1912“
„Zur Erinnerung an die schönen Herbstferien von 1912,
Gabriele“
Ein Jahr später illustriert Clara Sander ihren Eintrag und zeigt mit der „Vorher/Nachher“- Skizze den Spa-Effekt auf die Sommerfrischler. Die 12-jährige Bertha freut sich über das offenbar erste Automobil der Großmama. Der Familie geht es hier gut.
„Vorher — Nachher
Wie oben links, so sieht man aus,
Wenn man nach Spa kommt von zu Haus.
Wie oben rechts, so schaut man drein
Wenn man ne Woch hier tut sein.
Die beste, schnellste Medizin
Ist das berühmte ‚Mosellin’.
Clara Sander 6/8. - 15/9 1913“
„Zur Erinnerung an die schönen Herbstferien 1913, die durch das Automobil noch verschönert wurden.
Bertha 15.9.13.“
Ende der Sommerfrische
Dies sind die letzten Ferien, die die Sander-Kinder in Spa verbringen. Der Krieg beginnt und darüber berichtet Mutter Clara Sander:
„Bei Kriegsausbruch 1914 war ich mit meinen beiden jungen Töchtern in Brüssel bei meiner Mutter zu Besuch. Da kam der Befehl, daß alle Deutschen innerhalb von 12 Stunden Belgien zu verlassen hätten. Züge nach Deutschland fuhren nicht mehr; so flüchtete ich mit den Kindern über Holland nach Köln zurück. Mit uns fuhr die langjährige treue Köchin meiner Mutter Josephine Meuter, die aus der Dürener Gegend stammt und die Gesellschafterin meiner Schwester, die mit ihrer Familie schon viele Jahre in Paris gelebt hatte, aber dem Gesetz nach noch Deutsche war. Die Fahrt dauerte 27 Stunden und das holländische rote Kreuz versorgte uns auf den Bahnsteigen mit Butterbroten und Kaffee.“
Großmutter Bertha Loeser vermietet ihre Villa nun für einige Jahre an einen Monsieur aus Paris, der in der eleganten Avenue Montaigne wohnt. Erst im Oktober 1919 schreibt sie erstmals wieder in ihr eigenes Gästebuch, diesmal auf Französisch. Nach einer Abwesenheit von fünf Jahren, die sie in Holland, England und Schottland verbracht habe, habe sie ihre Villa in einem recht guten Zustand vorgefunden. Sie bleibe jetzt sechs Wochen lang hier mit ihrer Tochter Pauline. Drei Jahre später wird die schöne Villa verkauft, die ihr Mann zu Beginn des Jahrhunderts für seine Familie erbauen lies. Dies geschieht — so schreibt Tochter Clara später — unter dem starken Einfluss ihrer älteren Schwester Pauline. Die hat das milde Klima der Côte d‘Azur und das elegante Leben dort für sich entdeckt. Ein Teil des Erlöses der Villa Mosella fließt in Paulines neues Feriendomizil in Cap d‘Ail, von dem an anderer Stelle noch die Rede sein wird. Der letzte Eintrag im Mosella-Gästebuch ist auf den 1. August 1922 datiert, er stammt von Paulines Sohn Georges, ihrem einzigem Kind.
Les Villas Spadoises
Die Postkarten in Berthas Nachlass tragen die Adresse der Villa Mosella, nämlich „Rue Clementine“. Das vereinfacht die Anfrage bei der Stadtverwaltung Spa, ob dieses Haus heute noch steht. Die Antwort kommt bald: Ja, nur Haus und Straße haben ihren Namen gewechselt, jetzt heißt es „Villa Lorraine“ und „Avenue Professeur Henrijean“. Außerdem wird auf eine Ausstellung verwiesen, die vor Jahren die „Villas Spadoises“ thematisierte. So werden die Sommerhäuser wohlhabender Familien genannt, die um 1900 entstanden, als Kuraufenthalte an den Mineralquellen von Spa en vogue waren. 1913 zählte man dort über 500 solcher Villen, heute existieren noch rund sechzig — eine davon ist die ehemalige Villa Mosella der Familie Loeser. Diese großbürgerlichen Sommerdomizile gehören mit ihrer speziellen Architektur heute zu den Sehenswürdigkeiten von Spa und sind als Rundgang aufgelistet.
Die Architektur dieser Häuser entspricht den wohlhabenden, kultivierten Stadtmenschen, die sich in ihrer Sommerresidenz gerne ein wenig ländlich und naturverbunden geben. Solch eine Villa ist mehr als ein Ferienhaus: Meist wohnten Frau und Kinder den ganzen Sommer lang hier und auch das gesellschaftliche Leben fand hier statt. Die Ehemänner reisten zum Wochenende per Zug aus dem knapp fünfzig Kilometer entfernten Lüttich an. Das Gästebuch listet jeden Sommer viele Besucher aus verschiedenen Ländern auf, sogar aus den USA. Berthas Großvater hatte einen etablierten Architekten aus Lüttich ausgesucht, Paul Dieudonné Jaspar. Heute stehen noch drei weitere von ihm entworfene „Villas Spadoises“. Auf den alten Postkarten stellt sich die Villa Mosella recht imposant auf einem großen Grundstück dar, sie sammelt gleichzeitig architektonische Zitate wie traditionelle Handwerkskunst. Da gibt es Türmchen mit spitzen Hüten, einen dekorativen Fachwerkgiebel mitten im geschieferten Walmdach, raues Sandsteinmauerwerk und kunstvoll geschmiedete Eisengeländer. Auf Rückfrage kann der Mitarbeiter der Stadtverwaltung nicht sagen, ob das Haus heute noch so aussieht — oft würden heute Pflanzen und Bäume diese Häuser von der Straße aus verdecken.
Der stolze neue Besitzer
Auf einen brieflichen Kontaktversuch antwortet der heutige Besitzer der jetzigen Villa Lorraine sofort. Er ist hocherfreut über die Anfrage, denn er hat immer wieder vergeblich nach alten Fotos und Postkarten seines Hauses gesucht. Der vorherige Besitzer, ein alter Professor, habe ihm nur wenige Fotos übergeben. Im Großen und Ganzen sei das Haus noch im Originalzustand. Einer seiner Vorgänger habe nur ein Zimmer an der Rückseite angebaut und einige Glasdächer recht passend erneuert. Drinnen seien Halle und Treppe noch original, nur der Bodenbelag leider nicht mehr. Der stolze Besitzer, ein aus Polen stammender Rechtsanwalt, lädt sofort zur Hausbesichtigung ein. Er glaubt auch, noch ein spezielles Foto von 1918 finden zu können. Da schmückt ein Adler den Dachfirst, denn in der Villa residiert zu der Zeit der stellvertretende deutsche Kommandant. Das ist ein Jahr bevor Berthas Großmutter nach Spa zurückkommt.
Spätes P.S.
Hinten im Gästebuch klebt, isoliert von den anderen Einträgen, ein altes Kinderfoto. Es zeigt Otto, der einen Leiterwagen mit der kleinen Bertha zieht. „Otto und Bertha im Garten der Villa Mosella“ hat Bertha mit ihrer Altersschrift daruntergeschrieben. Ein spätes Postskriptum und ihre sentimentale Erinnerung an unbeschwerte Ferientage bei ihrer geliebten Großmutter Bertha.
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Ein unkonventionelles Foto
Bertha Sander und ihre Mutter in Reformkleidung
Die 13-jährige Bertha besitzt eigene Postkarten. Ein paar davon sind ein Jahrhundert später noch in ihrem Nachlass zu finden. Es ist eine professionelle Aufnahme, die wahrscheinlich in einem Fotoatelier sorgsam komponiert wurde und deren größere Abzüge rückseitig üblicherweise